„ICH KANN EINFACH NICHT VERSTEHEN, dass du dort hinziehen willst!“ schrie ihre Schwester gerade. „Und auch noch für immer!“
„Es ist doch gar nicht für immer“, versuchte Lacey sie zu beruhigen. Schließlich hatte sie im Laufe der Jahre genug Erfahrung darin sammeln können, Naomi im Falle der Fälle nur ja nicht noch weiter aufzuregen als sie sowieso schon war. “Das Visum ist auf zwei Jahre begrenzt.“
Oh, das hätte sie wohl besser nicht gesagt.
„ZWEI JAHRE?“ brüllte Naomi, die anscheinend am Zenit ihrer Wut angekommen war.
Lacey rollte mit den Augen. Sie hatte schon von vorne herein geahnt, dass ihre Familie nicht hinter ihrer Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen, stehen würde. So hatte sie Naomi, so lange sie in New York gelebt hatte, immer wieder als Babysitterin eingesetzt und für ihre Mutter hatte sie des Öftern als eine Art moralische Unterstützung und/oder Seelentrösterin zur Verfügung stehen müssen. So war ihre von Freude übersprudelnde letzte Nachricht an die Doyle Girlz bei diesen eingeschlagen wie eine Atombombe; und zwar so sehr, dass Lacey auch jetzt – einige Tage später – immer noch mit dem daraus resultierenden Niederschlag zu kämpfen hatte.
„Ja, Naomi“, antwortete sie niedergeschlagen. „Zwei Jahre. Ich denke, die habe ich mir verdient. Ich habe David vierzehn Jahre meines Lebens geopfert und meinem Job fünfzehn Jahre. Ich habe neununddreißig Jahre meines Lebens in New York City verbracht. Mensch Naomi – und das, wo ich bald vierzig werde! Wünschst du dir wirklich für mich, dass ich mein ganzes Leben lang an einem einzigen Ort leben soll? Soll ich, wenn es nach dir geht, mein ganzes Leben lang nur einen Job haben? Und nur einen Mann?“
Kaum hatte sie ihre letzten Worte ausgesprochen, erschien Toms markantes Gesicht vor ihrem inneren Auge und sofort wurden ihre Backen wieder warm.
Sie war so damit beschäftigt gewesen, ihr eventuelles neues Leben zu planen, dass sie bisher noch nicht dazu gekommen war, der Konditorei einen zweiten Besuch abzustatten – und statt eines ausgiebigen, gemütlichen Brunchs in ihrem Garten bestand ihr Frühstück zurzeit aus einer meist unterwegs gegessenen Banane und einem aus einer Instant-Mischung aus dem Lebensmittelladen „gebrühten“ Frappuccino. Und es hatte bis gerade eben gedauert bis es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen war, dass sie - wenn sie endlich einmal alle Formalitäten hinsichtlich des Ladens von Stephen und Martha erledigt hätte – in Toms direkter Nachbarschaft arbeiten würde. Dann würde sie nur zum Fenster ihres Ladens hinausschauen müssen, um ihn jeden Tag zu sehen. Bei diesem Gedanken wurde ihr schon wieder ganz schwummerig zu Mute.
„Und was ist mit Frankie?“ jammerte Naomi am anderen Ende der Leitung und holte sie damit zurück in die Realität.
„Ich habe ihm ein paar Toffees geschickt.“
„Er braucht seine Tante!“
„Ich bin immer noch für ihn da! Ich bin ja nicht tot, sondern will nur einmal eine Zeit lang wo anders leben.“
Doch ihre kleine Schwester legte einfach auf.
Oh Mann, wie kann sich jemand, der 36 Jahre alt ist, bloß benehmen als wäre er gerade mal 16, dachte sich Lacey mit einer gewissen Ironie.
In dem Moment als sie das Handy zurück in ihre Tasche steckte bemerkte Lacey ein Flickern auf der geöffneten Bildschirmseite vor ihr. Der Status ihres Antrags auf ein Visum war von „in Bearbeitung“ in „genehmigt“ geändert worden!
Lacey sprang von ihrem Stuhl auf, gab einen Freudenschrei von sich und boxte vor lauter Übermut in die Luft und erschreckte damit die meist älteren Menschen, die an den anderen Computern der Bibliothek saßen so sehr, dass diese ihre Solitaire-Spiele für einen Augenblick unterbrachen und zu ihr herübersahen.
„Tut mir leid!“ rief Lacey, wobei sie versuchte ihre freudige Erregung etwas in den Griff zu bekommen.
Vor lauter Ehrfurcht ganz atemlos geworden ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Sie hatte es geschafft! Jetzt hatte sie grünes Licht, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Und die Tatsache, dass das alles bisher recht leicht zu bewerkstelligen gewesen war, ließ sie wieder glauben, dass das Schicksal seine schützenden Hände über ihr Vorhaben hielt….
Doch da war noch ein letztes Hindernis. Sie musste noch mit Stephen und Martha über die Vermietung des Ladens sprechen,
*
Obwohl Lacey bei ihrem Stadtbummel recht entspannt erscheinen mochte war sie alles andere als das. Denn sie wollte sich nicht allzu weit von dem Laden wegbegeben, wollte sie doch nach Stephens Anruf mit ihrem Scheckheft und einem Stift bewaffnet schnellstmöglich zu diesem zurücklaufen und den Mietvertrag unterschreiben, und zwar noch bevor die warnende Stimme in ihrem Inneren ihr davon abraten konnte. In der Zwischenzeit konnte und wollte sie sich erst einmal nach ein paar neuen Outfits umschauen. Als sie dann noch mit einem ihrer billigen Bootsschuhe vom Flughafen an dem hiesigen Kopfsteinpflaster hängenblieb, stolperte und sich den Knöchel verstauchte wurde ihr endgültig klar, dass sie die ganzen Billig-Klamotten, die sie am Flughafen gekauft hatte, loswerden und durch vernünftigere Kleidung ersetzen musste, wenn sie als zukünftige Geschäftsfrau wahr und ernst genommen werden wollte.
Aus diesem Grund machte sie sich auf den Weg zu der Modeboutique, die neben ihrem - hoffentlich - baldigem eigenen Laden lag.
So kann ich mich auch gleich mit meinen neuen Nachbarn bekannt machen, dachte sie sich.
Sie betrat den sehr sparsam eingerichteten Laden, in dem es auch nur wenige ausgewählte Stücke zu kaufen zu geben schien. Die Frau hinter der Ladentheke sah auf, um die Besucherin zu betrachten, rümpfte aber beim Anblick von Laceys Klamotten deutlich sichtbar die Nase. Die Frau war spindeldünn und wirkte ziemlich hart, hatte aber ihr lockiges braunes Haar ganz genauso frisiert wie Lacey das ihre. Lacey dachte amüsiert, dass die andere, die ein schwarzes Kleid trug, aussah wie ein böser Klon von ihr.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte die Frau mit einer dünnen, unangenehmen Stimme.
„Nein, danke“, antwortete Lacey. „Ich weiß was ich suche.“
Zuerst nahm sie sich einen Zweiteiler, der im selben Stil gehalten war wie die Sachen, die sie üblicherweise in New York getragen hatte, von einer der Kleiderstangen, hielt dann aber inne. Wollte sie wirklich wieder so aussehen wie früher? Und dieselbe Art Kleidung tragen? Oder wollte sie sich nicht lieber neu erfinden?
Sie wandte sich der Verkäuferin zu und sagte: “Ich glaube ich brauche doch etwas Hilfe.“
Daraufhin kam die Frau zwar hinter der Ladentheke hervor und ging zu Lacey hinüber, wirkte dabei aber weiterhin ziemlich unbeteiligt. Man merkte ihr deutlich an, dass sie es für Zeitverschwendung hielt, sich mit Lacey abzugeben – denn welche Frau, die – wie es aussah - normalerweise in Second-Hand und Ramschläden einkaufte, hatte schon genug Geld, um in einer Boutique wie dieser einkaufen zu können? Deshalb freute sich Lacey schon auf den Moment, in dem sie dieser hochnäsigen Trulla ihre Kreditkarte unter die Nase halten könnte.
„Ich brauche etwas für die Arbeit“, sagte Lacey. „Schon formell, aber trotzdem nicht zu steif, wenn Sie wissen, was ich meine?“
Die Frau blinzelte. „Und was machen Sie beruflich?“
„Ich mache in Antiquitäten.“
„In Antiquitäten?“
Lacey nickte. „Yup, in Antiquitäten.“
Die Frau holte ein Teil von dem Kleiderständer. Es war ein modischer, ein wenig ausgefallener und leicht androgyner Hosenanzug. Lacey nahm den Anzug mit in die Umkleidekabine und probierte, ob er ihr von der Größe her passte. Als sie sich in diesem Outfit im Spiegel sah