Glücksspielstörung. Kai W. Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kai W. Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170342040
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Verhaltenssucht

      Substanzgebundene Abhängigkeitserkrankungen zeichnen sich auch durch eine bestimmte neurochemische Wirkung aus, welche die konsumierte psychoaktive Substanz entfaltet. Jene Substanzwirkung kann bei dem Konsumierenden etwa erregende oder auch sedierende Effekte ausüben, in jedem Fall aber führt die chemische Zusammensetzung der Droge zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Veränderung im Erleben und der Wahrnehmung. Natürlich stellt dies einen Unterschied zur Gruppe der Verhaltenssüchte dar, die nicht ohne Grund auch als substanzungebundene Abhängigkeitserkrankungen bezeichnet werden.

      Im Falle der Verhaltenssucht fällt die neurochemische Wirkung der Droge weg, die unmittelbare zumindest, denn durch die Verhaltensausführung wird sehr wohl auch eine Veränderung des psychischen Zustands des Handelnden erzielt. Für diese Annahme sprechen Forschungsbefunde aus zahlreichen Teildisziplinen der Psychologie.

      Auch wenn gerade die Kritiker des Verhaltenssuchtkonzepts dies gerne außen vor lassen, treten Verhaltenssüchte nicht im Zusammenhang mit »allen möglichen« Verhaltensweisen auf. Man denke an die ewig wiederholte zynische Allegorie von der »Lesesucht«. Präzise ausgedrückt: Die Anzahl an Verhaltensweisen, die mit für ein Suchtverhalten charakteristischen Symptomen wie Kontrollverlust, Toleranzentwicklung und Entzugsgeschehen einhergehen, ist durchaus überschaubar. Die größte Evidenz existiert für die Teilnahme an Glücksspielen sowie die Nutzung von Computerspielen. Aus diesem Grunde sind es eben die Glücksspielstörung sowie die Störung durch Computerspielen, die im DSM-5 (APA 2013) bzw. bald auch im ICD-11 (WHO 2018) als eigenständige Störungsbilder geführt werden. Bislang zwar nicht als eigenständiges Störungsbild anerkannt, jedoch ebenfalls immer besser durch empirische Fakten und klinische Beschreibungen untermauert sind die Kaufsucht, die Sexsucht sowie, mit Abstrichen, die Sportsucht (Bilke-Hentsch et al. 2014; Müller et al. 2017).

      Was aber führt genau dazu, dass bestimmte Verhaltensweisen außer Kontrolle geraten können? Diese sehr wichtige Frage ist unglücklicherweise auch eine, die sich derzeit noch nicht gut beantworten lässt.

      Wir wissen, dass bereits auf motivationaler Ebene Unterschiede zu verzeichnen sind zwischen Patienten, die unter einer Verhaltenssucht leiden, und solchen, die das Verhalten zwar auch ausführen, jedoch kontrolliert und nicht exzessiv. Am Beispiel Glücksspielstörung konnten diese Unterschiede in der Nutzungsmotivation auch zwischen Patienten und professionell Spielenden belegt werden. Weinstock et al. (2013) verglichen Patienten, welche die Kriterien für eine Glücksspielstörung erfüllten, mit einer Gruppe professioneller Spieler, die über die Glücksspielteilnahme (hauptsächlich das Kartenspiel) die Hälfte ihres Durchschnittsjahreseinkommens erspielte und mindestens zweimal pro Monat am Glücksspiel teilnahmen. Bei professionell Spielenden lag das Hauptnutzungsmotiv ganz pragmatisch im Geldverdienen. Demgegenüber stand bei der Patientengruppe die Regulation aversiver emotionaler Zustände sowie das Erzeugen eines Gefühls der Erregung im Vordergrund.

      Neurochemisch scheint vor allem dem Neurotransmitter Dopamin Bedeutung beigemessen werden zu müssen. Dass sich bestimmte Verhaltensweisen, wie etwa Essen, Sex, aber auch Sport sowie das Spielen von Computerspielen auf die dopaminerge Transmission wirken, konnte in zahlreichen Studien nachgewiesen werden (Koepp et al. 1998; Wang et al. 2011; Hull et al. 2004). Obwohl Dopamin ein wichtiger vermittelnder Botenstoff bei der Entstehung oder der Aufrechterhaltung von Suchtverhalten darstellt, ist er nicht alleinverantwortlich für das komplexe biopsychosoziale Suchtgeschehen.

      Grundsätzlich scheint dem Prinzip der Immersion und des Flows eine große Bedeutung innezuwohnen. Unter Immersion versteht man das Eintauchen in ein bestimmtes Medium bzw. ein Erlebnis. Im Falle der Glücksspielstörung äußert sich Immersion dahingehend, dass Patientinnen und Patienten das Gefühl haben, völlig in der Spielteilnahme aufzugehen. »Die Welt besteht einzig und allein aus mir und dem Automaten« ist beispielsweise ein typischer Satz eines Betroffenen, der das Phänomen der Immersion umschreibt.

      Suchterkrankungen – und hierbei ist es unerheblich, ob stoffgebunden oder nicht – entwickeln sich in aller Regel nicht schlagartig, sondern vor dem Hintergrund bestimmter Prädispositionen (individuelle Vulnerabilität) und über einen längeren Zeitraum. Zwischen dem Erstkontakt mit der psychotropen Substanz bzw. dem kritischen Produkt (z. B. Geldspielautomaten) und der Manifestation von Symptomen eines abhängigen Verhaltens vergeht also Zeit.

      In dem von Robinson und Berridge (2008) formulierten Wanting-Liking-Learning Modell, welches auch in einer für Verhaltenssüchte angepassten Version vorliegt (Grüsser und Thalemann 2006; Müller und Wölfling 2017), wird der Prozess der Suchtentwicklung als Phasenmodell aufgegriffen (image Abb. 3.1).

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      Der Grundgedanke des Modells liegt darin, dass die Glücksspielnutzung zunächst im Sinne einer positiven Verstärkung zum Erleben positiver Effekte führt, wodurch – unter bestimmten Voraussetzungen, die in Kapitel 7 näher ausgeführt werden – eine erste Verstetigung des Verhaltens erfolgt. Häufig berichten Patienten von einem als überwältigend erinnerten Erfolgserlebnis aus der Anfangsphase des Konsums. Ein solches Ereignis kann ein überraschend hoher Geldgewinn sein oder auch das Erleben einer starken Erregung während der Spielteilnahme, die der Betroffene in dieser Form zuvor noch nicht erlebt hatte.

      Gleichzeitig wirken Mechanismen der klassischen Konditionierung. Vormals neutrale Reize (z. B. die Monitore in einem Wettbüro, der Klang von Geldspielautomaten etc.) werden mit positiven Reizen (z. B. Geldgewinn) gekoppelt und erhalten somit einen eigenen belohnungsanzeigenden Wert, der sich später verhaltenssteuernd auswirkt. Derartige Konditionierungen können sehr individuell ausfallen und sollten im Rahmen der Therapie einzeln herausgearbeitet werden.

      Im weiteren Verlauf ist typischerweise eine Intensivierung der Glücksspielteilnahme zu beobachten; die Dosissteigerung kann sich hinsichtlich der Spielfrequenz sowie -dauer und der getätigten Einsätze kennzeichnen. Die vormalige Motivation der Teilnahme, durch die Nutzung positive Effekte zu erleben, wird sukzessiv von einem Druck, das Verhalten ausüben zu müssen, abgelöst. Dieser Konsumdruck, auch als Craving bezeichnet, ergibt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der inzwischen durch die Konditionierungsprozesse erlernten Reaktionen auf bestimmte auslösende Reize.

      Die intensivierte Glücksspielnutzung gerät zunehmend außer Kontrolle, was neuropsychologisch dadurch gekennzeichnet ist, dass präfrontale Hirnregionen weniger Kontrolle ausüben und stattdessen eher belohnungsabhängige Strukturen, wie das limbische System spezifisch aktiviert werden und damit verhaltensinitiierend wirken. Damit verbunden sind typische negative Konsequenzen, Geldverluste, aber auch der erlebte Druck, das Verhalten vor Mitmenschen verheimlichen zu müssen, dysphorische Affekte und psychovegetative Symptome (Schlafstörungen, Konzentrationsdefizite etc.) sowie ein abnehmendes Leistungsniveau. Die Glücksspielteilnahme erhält so immer mehr die Funktion, diese negativen Konsequenzen und die damit verbundene Stressbelastung zu reduzieren, wodurch sich ein Teufelskreis ergibt.

      Allein in Deutschland beläuft sich der Anteil an Menschen, die von der Glücksspielstörung betroffen sind auf fast 1 %. Weitere 3 %, so die Schätzungen, weisen ein zumindest problematisches Nutzungsverhalten auf; d. h., die Teilnahme am Glücksspiel verläuft zumindest phasenweise unkontrolliert und führt zu negativen Konsequenzen (Meyer et al. 2011). Wir wissen ferner, dass Patienten mit einer Glücksspielstörung eine deutliche psychopathologische Symptombelastung und eine verminderte Lebensqualität mitbringen. Depressive Symptome, Stressbelastung, finanzielle Sorgen und der Druck, das Verhalten vor anderen Menschen geheim halten zu müssen, stellen eine nicht unerhebliche zusätzliche Belastung dar.

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