Glücksspielstörung. Kai W. Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kai W. Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170342040
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Notwendigkeit einer Rehabilitation durch den behandelnden Hausarzt sowie ein Sozialbericht einzureichen.

      Im Rahmen der stationären Behandlung, welche in der Regel durch die Deutsche Rentenversicherung getragen wird, erfolgt eine Zuteilung Betroffener entweder in suchtspezifische oder psychosomatische Rehabilitationseinrichtungen. Abhängig von einer auf eine Ausarbeitung von Petry und Jahrreiss (1999) zurückgehende Kategorisierung Betroffener, ist eine stationäre Behandlung in einer Einrichtung für Abhängigkeitserkrankungen mit zusätzlichem glücksspielspezifischen Schwerpunkt vor allem dann indiziert, wenn zusätzlich eine Substanzabhängigkeit vorliegt (sog. Gruppe A). Dasselbe wird für Patienten der Gruppe B empfohlen. Gruppe B beinhaltet Patienten, die zusätzlich die Merkmale einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung aufweisen. Eine psychosomatische Versorgung soll insbesondere für Betroffene mit »depressiv-neurotischer Belastung« (Gruppe C) oder einer komorbiden Störung, die für sich genommen eine psychosomatische Behandlung rechtfertigt (Gruppe D), zielführend sein. Diese Einteilung folgt einer speziell in Deutschland geltenden Systematik und – betrachtet man die Angelegenheit rein empirisch – ist ungeklärt, ob durch diese Zuteilung etwas für die Rehabilitation Betroffener gewonnen ist. Empirische Evaluationen zu dieser Zuteilungssystematik fehlen. In Kapitel 7 wird jedoch gezeigt, dass es durchaus alternative Einteilungsmöglichkeiten gibt.

      Nach einer absolvierten stationären Rehabilitation besteht die Möglichkeit, die erzielten Behandlungserfolge über die Teilnahme an einer ambulanten Nachsorgemaßnahme zu festigen. Bislang fehlen zwar systematische Untersuchungen dazu, ob bzw. in wie fern eine ambulante Nachsorge zu einer signifikanten Besserung der Prognose führt, auf rein theoretischer Ebene ist eine solche Maßnahme aber zu empfehlen. Betroffene erleben die Zeit während der stationären Behandlung oftmals »wie in einer Blase«. Reize und Stressoren des regulären Alltags, die unter Umständen einen Suchtbezug aufweisen, treten in diesem geschützten Kontext selbstredend nicht auf. Nach der Entlassung hingegen sieht sich der Patient erneut mit ihnen konfrontiert, was die Gefahr eines Rückfalls erhöhen kann. Dieser Dynamik lässt sich mit einer Anbindung an eine ambulante Nachsorge entgegenwirken (für Details vgl. Meyer und Bachmann 2017).

      Vertiefung: Zahlen zur Versorgungssituation in Deutschland

      Eine auf einer systematischen Analyse der Daten der Deutschen Rentenversicherung beruhende Veröffentlichung bietet einen guten Überblick über die Versorgungssituation Betroffener in Deutschland (Erbas und Buchner 2012). Die Analysen legen nahe, dass nur ein kleiner Teil der Betroffenen in das spezifische Suchthilfesystem gelangt. Gemessen an der Prävalenz pathologischen Glücksspiels in der Bevölkerung, begeben sich also vergleichsweise wenige Betroffene in Behandlung. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei um eine spezielle Subgruppe handelt. 90 % der Behandlungssuchenden weisen mindestens eine weitere komorbide psychische Störung auf, 40 % sogar vier verschiedene Diagnosen. Zwischen 2000 und 2010 hat sich die Anzahl der zumeist männlichen Behandlungssuchenden verdreifacht.

      3

      Verhaltensspezifika

      3.1 Klassifikation und Wandel der Definition der Glücksspielstörung

      Erstmalig wurde das »Pathologische Glücksspiel« 1980 im DSM-III aufgenommen. Bis zur Veröffentlichung des DSM-5 (2013) wurde es unter dem Code F63.0, also im Kapitel der Impulskontrollstörungen geführt; übrigens ebenso im ICD-10. Definiert wurde das Störungsbild als anhaltendes bzw. wiederkehrendes und sich im Verlauf steigerndes Glücksspielverhalten, welches trotz damit verbundener negativer Konsequenzen aufrechterhalten wird. Die Zuordnung als Impulskontrollstörung war nie wirklich zufriedenstellend, denn statt der vollen Komplexität des Störungsbildes wurde lediglich der Teilaspekt der verminderten Impulskontrolle in den Vordergrund gestellt. Vergleicht man das pathologische Glücksspiel mit anderen Impulskontrollstörungen, wie der Kleptomanie oder Pyromanie, wird deutlich, dass sich gravierende Unterschiede auftun, insbesondere hinsichtlich des Symptomverlaufs. Während sich zum Beispiel die Pyromanie als periodisch auftretendes dysfunktionales Verhalten manifestiert und somit also zwischen den Symptomausbrüchen unauffällige Phasen liegen können, findet sich beim pathologischen Glücksspiel eher eine kontinuierlich exazerbierende Symptomschwere, der etwa im diagnostischen Kriterium der Toleranzentwicklung bereits im DSM-IV Rechnung getragen wird. Zudem sind die Komorbiditätsraten beider Störungen sehr gering, was auf unterschiedliche pathogene Mechanismen schließen lässt (Mann et al. 2017).

      Mit der Zunahme wissenschaftlicher Untersuchungen und klinischer Studien offenbarten sich bald auffällige Parallelen zu Substanzabhängigkeiten. Diese Parallelen betrafen einmal die Symptomebene, wie die übereinstimmend für beide Störungsbilder definierten diagnostischen Kriterien wie Toleranzentwicklung, Entzugssymptomatik, Kontrollverlust und Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen verdeutlichen.

      Die vielen Ähnlichkeiten zwischen Substanzabhängigkeit und Glücksspielstörung auf neurobiologischer Ebene, die etwa die spezifische Reizreaktivität betreffen, sowie die automatische Anreizhervorhebung von mit dem Verhalten in Zusammenhang stehenden konditionierten Hinweisreizen (Grant et al. 2016), werden in diesem Band im Detail in Kapitel 4 besprochen.

      Diese Erkenntnisse führten schließlich dazu, dass immer mehr Fachleute aus Theorie und Praxis in dem Verhalten eine substanzungebundene Abhängigkeitserkrankung, bzw. Verhaltenssucht sahen (Grüsser und Thalemann 2006; Bilke-Hentsch et al. 2014). National wie international hatte dieser sich ankündigende Paradigmenwechsel fast schon dogmatische Debatten zur Folge, welche bisweilen den Eindruck erweckten, weniger auf Fakten als vielmehr auf persönlichen Befindlichkeiten zu beruhen. Im Endeffekt entschied sich diese Debatte im Jahr 2013, als die American Psychiatric Association das DSM-5 vorstellte (APA 2013). Es mutete fast schon wie ein kleiner klassifikatorischer Quantensprung an, dass das bisherige Kapitel der Substanzabhängigkeiten umbenannt wurde und nun auch »suchtartige Verhaltensweisen« einschloss, deren erster Vertreter die sogenannte »Gambling Disorder«, zu Deutsch Glücksspielstörung repräsentierte.

      Im kürzlich vorgestellten ICD-11 (WHO 2018) erfolgt die Einordnung der Glücksspielstörung ebenfalls im Kapitel der »Substanzabhängigkeiten und suchtartigen Verhaltensweisen«. Interessant ist, dass es zwei verschiedene Codiermöglichkeiten gibt und die Glücksspielstörung danach einteilt, ob sie sich vorwiegend auf Offline-oder Online-Glücksspiele bezieht. Definiert ist das Störungsbild als eine über die Zeit anhaltende oder wiederkehrende Nutzung von Glücksspielen, welche sich durch drei Aspekte kennzeichnet:

      1. Verminderte Kontrolle über die Verhaltensausübung, etwa hinsichtlich Häufigkeit, Dauer, Kontext und Beendigung

      2. Überhöhte Bedeutung, die dem Verhalten beigemessen wird, sodass es einen lebensbestimmenden Charakter annimmt und andere Interessen und Aktivitäten des Alltags beeinträchtigt

      3. Fortführung der Glücksspielnutzung trotz dadurch verursachter Schwierigkeiten und negativer Konsequenzen

      Weiter wird festgehalten, dass das Verhalten zu einer klinisch signifikanten Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus führt und die Symptome über einen Zeitraum von zwölf Monaten vorhanden sein müssen.

      Vertiefung: Verhaltenssucht oder Impulskontrollstörung?

      Eine elegante Studie wurde im Jahre 2005 von Goudriaan et al. vorgelegt. Diese untersuchten das neurokognitive Merkmal der Entscheidungsfindung (Decision Making). Neben Patienten mit einer Glücksspielstörung und einer gesunden Kontrollgruppe bezogen die Autoren außerdem Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit mit ein. Um die Glücksspielstörung nicht nur mit einer Abhängigkeitserkrankung, sondern auch mit einer Impulskontrollstörung vergleichen zu können, wurden zudem Patienten, die unter dem Tourette-Syndrom leiden, eingeschlossen. Die Studie sah eine Testung der vier Gruppen mit verschiedenen computergestützten neuropsychologischen Testverfahren vor, zum Beispiel dem Iowa Gambling Task und einem Go/No-Go-Testverfahren. Die Ergebnisse zeigten, dass Patienten mit Glücksspielstörung verglichen mit gesunden Probanden deutliche Defizite in der Entscheidungsfindung offenbarten, welche jenen der alkoholabhängigen Patienten glichen, nicht jedoch unter Patienten mit Tourette-Syndrom zu finden waren.