Meine Augen weiteten sich. „Oh ... richtig ...“
Das bedeutete wohl, ich konnte das Gerät nicht benutzen, um den Kontakt zu meinen Freunden aufrechtzuerhalten. Es wäre zu riskant. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen, um mich bei ihnen zu melden.
Lloyd umarmte mich fest. „Bis gleich.“
„Bis gleich“, flüsterte ich.
Bevor er auf einen der beiden Flugvögel stieg, hauchte er mir einen Kuss auf die Stirn. Dann machte er sich auf den Weg.
Eine Weile blickte ich ihm nach, bis mir klar wurde, dass ich nun auch meine Sachen packen sollte. Also schwang ich mich auf den Rücken des Animalias und flog zum Wohnhaus, das um diese Zeit hoffentlich verlassen war. Die meisten Ranger müssten gerade im Dienst sein. Solange ich mich leise hineinschlich, würde ich unentdeckt bleiben.
Eigentlich könnte ich dorthin laufen, doch dafür müsste ich den belebten Marktplatz überqueren. Ich durfte nicht riskieren, andere Leute zu treffen. Ich trug ja nicht mal mein Cap, meine einzige Tarnung bestand aus einer engen Jeansweste, die meine weiblichen Rundungen kaschieren sollte, und aus einer Ranger-Uniform. Aber mit offenen Haaren brachte das gar nichts.
Mein Flugvogel schwang sich kraftvoll in die Luft und trug mich zu meinem Ziel, ohne dass ich es ihm nannte. Die Fiorita verstanden mich sogar ohne Worte und ich war unendlich froh darüber. Ich liebte diese Wesen. Es war zwar nicht immer einfach, mit ihnen verbunden zu sein und all ihre Gefühle ebenfalls zu spüren, aber für nichts auf der Welt würde ich diese Fähigkeiten hergeben.
Sanft landete das Animalia auf der Rückseite des Wohnhauses. Von hier aus sah ich die Zweigstelle nicht. „Danke“, wisperte ich, als ich vom Rücken des Flugvogels stieg. „Ich rufe dich, wenn ich fertig bin, okay?“
Er krähte leise zur Zustimmung. Ich strich über seinen harten Schnabel und huschte dann um das Gebäude herum zur Tür. Niemand in Sicht, sehr gut. Seit ich aufgeflogen war, hatte ich meine Kollegen weder gesehen noch gesprochen. Ich fürchtete mich vor entsetzten oder vorwurfsvollen Blicken wegen meiner langjährigen Lüge, dass ich ein Mann namens Takuto wäre.
So leise wie möglich huschte ich in den ersten Stock zu meinem Zimmer. Als ich die Tür hinter mir schloss, überkam mich ein Moment von Ruhe. Dieser wohlbekannte Raum ließ mich aufatmen. Es hatte sich innerhalb von zwei Tagen alles verändert, doch hier drinnen sah ich keinen Unterschied.
Langsam ging ich zum Bett, das nahe beim Fenster stand, und zog darunter einen Rucksack hervor. Meinen Koffer nahm ich nicht mit. Der Rucksack musste reichen. Ich öffnete ihn und stellte ihn auf den Schreibtischstuhl. Nun hieß es packen.
Zuerst zog ich mich allerdings um, tauschte meine Uniform gegen Jeans und Pullover. Kurz musterte ich die dunkelbraune Hose, das weiße Hemd und die braune Jacke, die ich jahrelang bei der Arbeit getragen hatte. Diese Zeit war jedoch vorbei. Ich war kein Ranger mehr. Ich faltete die Uniform zusammen und legte sie aufs Fußende des Bettes.
Danach zog ich eine Mütze aus meinem Schrank und lief damit durch die Verbindungstür in mein Badezimmer. Ich wusch mir die Hände und das Gesicht, kämmte meine wirren Haare und versteckte sie anschließend unter der roten Mütze. Am liebsten hätte ich mich geduscht, aber das wäre auffällig laut gewesen. Das riskierte ich besser nicht.
Aus dem Schrank hinter dem Spiegel am Waschbecken holte ich meinen ganzen Vorrat an dunkelbraunen Kontaktlinsen. Ein Päckchen benutzte ich direkt, um meine Augen damit zu verdecken. Ein Blick in den Spiegel versicherte mir, dass ich wie eine gewöhnliche junge Frau aussah. Selbst wenn mich jemand sah, würde er mich nicht gleich als Mädchen aus der Legende identifizieren.
Um mich in den nächsten Wochen weiterhin tarnen zu können, verstaute ich die übrigen Kontaktlinsen in meinem Rucksack. Auch meine Klamotten suchte ich zusammen. Hosen, Shirts, Pullover, Unterwäsche, Socken ... Viel passte nicht in den Rucksack, aber genug. Ich nahm eine Jacke vom Haken im Schrank und zog sie mir über. Draußen war es schließlich kalt.
Da fiel mein Blick auf etwas anderes. In meinem Schrank hing ein wunderschönes oranges Kleid mit einem weißen Bolerojäckchen. Meine Mutter hatte mir das Outfit zum 18. Geburtstag geschenkt. Unwillkürlich schossen mir Tränen in die Augen. Nicht wegen des Kleides, sondern wegen der Erinnerung an meine Mutter Cassandra. Bisher hatte ich verdrängt, was heute im Morgengrauen zwischen uns vorgefallen war, doch nun überwältigte mich die Erinnerung daran. Meine Mutter hatte nichts davon gewusst, dass ich das Mädchen aus der Legende war und verkleidet als Ranger gearbeitet hatte. Sie hatte nichts davon gewusst, dass ihr eigener Mann die wohl gefährlichste Verbrecherorganisation aller Zeiten gegründet hatte und anführte. Und all das hatte sie gestern Abend auf einmal erfahren. Sie war verhaftet, verhört und wegen ihrer Unschuld wieder freigelassen worden. Aber zugleich hatte sie den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen. Gesagt, dass sie keinen Mann und keine Tochter mehr hätte. Meine Nummer gesperrt, damit ich sie nicht mehr erreichen konnte. Meine Mutter wollte nichts mehr von mir wissen. Und das zerriss mir das Herz. Vor allem weil ich rein gar nichts tun konnte.
Ich schluchzte auf, als ich das Kleid zusammenfaltete und mit dem Bolero in den Rucksack packte. Ich musste es einfach mitnehmen. Schon allein wegen der Erinnerung an eine Zeit, in der Cassandra meine fröhliche, liebevolle und etwas durchgeknallte Mutter gewesen war.
Aber nun hatte ich keine Familie mehr im Bezirk der Ranger. Mit meinem grausamen Vater wollte ich nichts mehr zu tun haben. Meine Mutter wollte mit mir nichts mehr zu tun haben. Geschwister oder andere Verwandte hatte ich sowieso nicht. Ich war allein.
Vor lauter Frust und Hilflosigkeit ballte ich die Hand zur Faust und schlug gegen die Tür des Kleiderschranks. Das schmerzhafte Pochen in meinen Fingern dämpfte die Verzweiflung allerdings kaum.
„Mia, reiß dich zusammen!“, ertönte eine Stimme in meinem Kopf. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gefühlsausbrüche!“
„Shadow“, murmelte ich. Es war eindeutig das Dämonenoberhaupt, der Herr über die Dunkelheit, der in meinem Kopf zu mir gesprochen hatte. Er ließ mich seine Worte über unsere Verbindung hören.
„Vergiss nicht, du bist nie allein“, erinnerte er mich. „Du hast uns stets an deiner Seite. Und Lloyd. Und das Ding in deinem Bauch.“
Ich prustete los. „Das Ding?“, wiederholte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen. „Nimm das zurück!“
„Ich wusste, dass du so reagieren würdest“, lachte der Dämon. „Natürlich meinte ich dein Kind. Und nun beruhige dich.“
„Danke“, flüsterte ich.
Shadow hatte recht. Gefühlsausbrüche halfen mir nicht weiter. Ich konnte nicht rückgängig machen, was geschehen war. Ich musste nach vorne schauen. Auch wenn es mir verdammt schwerfiel. Um nicht zu sagen: unmöglich erschien.
Schnell schüttelte ich den Kopf und begutachtete den Inhalt meines Rucksacks. Ich hatte alles, was ich brauchte. Geldbeutel, Klamotten, Kontaktlinsen, Zahnbürste und andere Hygieneartikel. Aber es blieben noch zwei Stunden, bis ich mich mit Lloyd treffen würde. Was sollte ich so lange tun?
„Mein Handy!“, fiel mir ein. Ich griff zur zusammengefalteten Hose meiner Uniform und zog es aus der Tasche. Handys waren teuer in Fioria. Ich hatte mich sehr über das silberne Arbeitsgerät gefreut. Doch nun musste ich es zurücklassen. Daher legte ich es auf den Schreibtisch, während mein Blick auf den Stapel Papier und die Kugelschreiber fiel, die darauf lagen. Kurz runzelte ich die Stirn. Ich hatte mich zwar von meinen Freunden verabschiedet, aber eigentlich hätte ich ihnen noch so viel zu sagen ...
Zögerlich nahm ich den Rucksack vom Stuhl und stellte ihn auf den Boden. Dann setzte ich mich hin und griff nach einem der Stifte sowie einem Blatt Papier. Doch schon nach der ersten Zeile geriet ich ins Stocken.
Ich stand wieder auf und holte meinen Schlüsselbund, den ich beim Eintreten schnell auf den Nachtschrank geworfen hatte. Es hingen nur drei Schlüssel daran – einer für die Zweigstelle, einer für dieses Zimmer und