Sie quälte sich mit immer neuen Fragen. Während der ganzen Fahrt hielt sie ein verknäultes Taschentuch zusammengepresst in der Hand.
Tante Constanze empfing sie strahlend und mit prallem Wohlwollen. Sie hat sich wundervoll gehalten, dachte Violet Bohner, noch immer unverkennbar eine Dame der Gesellschaft, eine Dame, die im rechten Verhältnis zu ihrem eigenen Alter steht. Ich sehe so etwas als Fotografin. Sie muss eine ausnehmend schöne Frau gewesen sein, und auch heute noch – oh, ich hätte einen Apparat mitnehmen sollen.
„Dass du zu mir kommst, Kindchen, um deine kleinen Sorgen mit mir zu besprechen, das freut mich besonders! – Ja, das ehrt mich geradezu“, fügte sie mit gut gespieltem Stolz und blitzenden Augen noch hinzu. „Ihr jungen Leute seid sonst nicht so offenherzig gegenüber uns Alten.“
Sie gingen durch eine helle Diele und – sieh da! – in einem weiten Erker hingen im Großformat, sauber aufgezogen, einige ihrer schönsten Aufnahmen an den Wänden. Sie war selbst überrascht, dass es so viele waren, die sie da im Lauf der Jahre Tante Constanze zu allen möglichen Anlässen geschickt hatte.
Trotz des herzlichen Empfangs und der überraschenden Begegnung mit ihren eigenen Bildern verspürte Violet immer noch arge Beklemmung, und das Reden über sich selbst fiel ihr schwer. Ich hätte vielleicht doch erst einmal versuchen sollen, mit mir allein ins Reine zu kommen, so suchte sie, noch ehe sie recht saßen, ihren inneren Rückzug vorzubereiten; was kann mir da Tante Constanze schon helfen.
Violet, die so Selbständige und Erfolgreiche, kam sich Tante Constanze gegenüber klein vor wie ein junges Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war und nun beichten muss. Dabei hätte es keinen Menschen gegeben, der ihr liebevoller zugehört hätte als Tante Constanze. Violet sprach fast tonlos und in verkürzten Sätzen, als lese sie aus einem gedrängt geschriebenen Tagebuch vor.
Sie erzählte zögernd, manchmal auch stockend, wie sie Ludwig Herkommer kennengelernt hat, wie unbefangen und frisch er damals das Zimmer besichtigt hatte, wie sie sich allmählich freundschaftlich näher gekommen sind – „er war mir einfach sympathisch, verstehst du, so grenzenlos sympathisch“ –, wie sich alles weiterentwickelt hat, ohne ihr Zutun, und welche Zweifel sie manchmal überkamen.
„Weißt du, ich bin immerhin fast 16 Jahre älter, er könnte mein Sohn sein.“
„Nun ja, fast“, korrigierte Tante Constanze trocken. „Du kannst ganz frei und unbefangen zu mir reden, mein liebes Kind. Ich weiß doch selbst, wie das ist. Nach Carls Tod, wirklich, erst ein paar Jahre nach seinem Tod“, Violet kannte Onkel Carl nur dem Namen nach, „da hatte ich auch einen guten Freund. Fast bis zu dessen Tod. Das war ein wunderbarer Mann. So unternehmenslustig, dabei so zärtlich und viel vergnügter und ausgelassener als mein würdiger Carl gewesen war. Und viel Lebensfreude heißt immer auch viel Lebenskraft! Oh, die hatte er!“
Tante Constanze schien noch immer begeistert von dieser Verbindung, und man sah ihr an, wie gern sie an diese Zeiten zurückdachte.
„Eines Tages aber kam unser Rabbiner zu mir – eigentlich ein lieber und herzlicher Mensch. Mein guter Carl war mit ihm fast befreundet gewesen, kann man sagen, aber ich hatte ihn schon seit vielen Jahren, ich glaube seit Carls Beerdigung, nicht mehr gesehen – und der machte mir arge Vorhaltungen, das war ganz schlimm. Ich war fassungslos und den Tränen nahe. Er komme im Rahmen seiner allgemeinen Verpflichtung zur Seelsorge bei allen Gemeindemitgliedern, meinte er fast entschuldigend. Carl war ja sehr gläubig gewesen, er zählte wohl zur Gruppe der Konservativen, die aber immer noch viel moderner sind als die Orthodoxen, und meine Gleichgültigkeit hat ihn sicherlich geschmerzt, obwohl wir immer wieder gute Gespräche über Glaubensfragen geführt haben. – Aber wie die in der jüdischen Gemeinde doch sofort alles erfahren, was man macht! Selbst in einer so großen Stadt wie München! Und wie sie sich auch um das Leben von Leuten kümmern, die sie im Grunde gar nichts mehr angehen!“
Violet fühlte sich erleichtert. Sie berichtete nun freier über den Wandel ihrer Gefühle, und erzählte von Gaski, diesem merkwürdig begabten Hund.
„– genauso, wie er Gaski sich zum Gefährten gemacht hatte – ohne ihn zu knechten –, genauso mühelos unterwarf er auch mich. Ohne Anstrengung oder gar Gewalt, abwartend nur – einfach indem er da war.“
Sie stockte wieder und fuhr dann fort:
„Er ist für mich die Kraft und das Leben, ich möchte ihn in mich – hereinsaugen geradezu.“
„Vergiss nicht, mein Kind“, fügte Tante Constanze hinzu, und da klang Kenntnis auf, „ein Liebhaber ist umso besser, je mehr er auch dem Partner Lust bereiten will. Das gilt für beide, und gleichzeitig.“
Violet berichtete, wie sich später dann ihr Verhältnis immer mehr stabilisierte, aber eben auf einer schmalen Basis – „wir trafen uns nur zu Hause, nirgends sonst und mit niemandem sonst“ – und sie beklagte die langen Unterbrechungen, weil er wochenlang dienstlich unterwegs sein musste, bis er dann in einer Nacht plötzlich und ungestüm wieder erschien.
„Aber gestern kam der totale Absturz. Obwohl man ihm eine besondere Karriere bei der Oberfränkischen Eisenbahn versprochen hat, will er dort weg. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil er sich so bewährt hat, wollen ihn die Neuen haben – da scheint es irgendwelche Verbindungen zu geben! Er hat einen festen Posten angeboten bekommen, also hauptberuflich, bei der SA, das sind die mit den Braunhemden in der Hitlerpartei.“
„Ja, ich weiß, aber um Gottes willen, was verspricht er sich denn da davon?“
„Ich weiß noch nichts Genaueres. Ich weiß nur, dass es jetzt aus ist, aus sein muss! Aber meine Leidenschaft“, und sie sagte tatsächlich Leidenschaft, „hat sich ja nicht geändert. Das macht alles so schlimm.“
„Ist er denn ein fanatischer Anhänger?“
„Nein, sicherlich nicht. Da hätte er sich irgendwann einmal zustimmend zu Hitler geäußert. Nein, die SA ist für ihn einfach ein besonders aussichtsreicher Arbeitgeber. Er hat sich ja dort nicht beworben. Umgekehrt, so könnte man sagen, die haben sich beworben. In seiner Berufung, hat er erklärt – aber das Wort ‚Berufung‘ stammt sicher nicht von ihm –, sieht er eine Auszeichnung für seine Tätigkeit bei der Oberfränkischen. Beim Wechsel davor war das genauso gewesen! Dabei kommt er bei der SA in eine ganz untergeordnete Position, sagt er. Aber der wird überall Karriere machen. Wer weiß, was sie ihm alles versprochen haben.“
„Nun, wenn er nicht fanatisch ist, dann hast du eine Chance! Wirke auf ihn ein!“
„Du meinst also, ich soll weiterhin –“
„Ja, das ist jetzt geradezu deine Aufgabe! Sprich mit ihm! Immer wieder! Verhindere, dass er ihnen verfällt! Sollte er allerdings zum Fanatiker werden – das kommt immer wieder vor, dass ein Posten bei irgendeiner Firma zum Glaubensbekenntnis wird –, dann hast du da nichts mehr zu suchen.“
„Ich will es versuchen“, antwortete Violet ziemlich kleinlaut.
„Als Allererstes musst du ihm sagen, dass du eine Jüdin bist. Mit Stolz musst du ihm das sagen, nicht mit ‚leider‘! Bis jetzt bestand noch keine Notwendigkeit dazu, aber jetzt ist das zwingend. Das Bekenntnis sind gerade wir assimilierten Juden unseren Mitjuden – ich will nicht einmal sagen unseren Glaubensgenossen – und ebenso natürlich allen anderen hier schuldig.“ –
Auf der Heimfahrt nach Nürnberg war Violet fast glücklich. Sie wunderte sich, wenn sie an die Hinfahrt nach München dachte, wie anders die Welt jetzt aussah, obwohl sich an ihrer elenden Lage nichts geändert hatte. Aber nun hatte sie eine Aufgabe, und sie fasste den festen Vorsatz, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Ludwig aufzuhalten, mit ihm zu sprechen und sich ihm als Jüdin zu offenbaren. Kein Tag sollte ungenutzt verstreichen, sofort!
Im Treppenhaus legte sie sich noch einmal ihre Sätze zurecht. Als sie die Wohnungstür aufschloss, läutete drinnen das Telefon. Der Anrufer war Viktor