Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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vorher nur deshalb nicht verdampft, weil im Kessel ein entsprechend hoher Druck geherrscht hat. In dem Moment, wo der Druck weg war, verwandelte sich das ganze Wasser schlagartig und restlos in eine riesige Dampfmenge mit einem Vielfachen des Kesselvolumens, die alles wegfegt, was im Weg steht. Das erst ist die eigentliche Katastrophe.“

      Herkommer bemühte sich, dem Reporter den Zerknall nicht nur verständlich, sondern so drastisch wie nur möglich darzustellen, was schon aus seinen heftigen Gesten ersichtlich war, denn er wollte ihn von erneuten Fragen zu den Ursachen des Wassermangels weglocken. Herkommer war ja schon wenige Sekunden nach dem Zerknall, als ihn die Druckwelle beinahe zu Boden geworfen hätte, die ganze Kette der Ereignisse klar geworden, die zu dem Unglück geführt hatte. Er war sich dabei seiner Sache völlig sicher und wusste genau, was die beiden in der Lok alles falsch gemacht hatten: Sie hatten kein Wasser mehr im Tender, wie er aus ihrem Telefonanruf wusste – das war schon der erste Fehler; ohne Wasserreserven fährt man nicht oder höchstens nur bis zum nächsten Wasserkran. Zwar erwogenen sie, wie ebenfalls dem Telefonanruf zu entnehmen war, noch Wasser aufzunehmen, hatten es dann aber wohl in der Hoffnung, dass das Kesselwasser noch bis Schirnding reichen würde, doch unterlassen – das war der zweite Fehler. Sicherlich haben sie dann auf der Weiterfahrt ihre Armaturen genau beobachtet und gesehen, dass sie nicht nur längst schon unterhalb der zulässigen Betriebsdaten fuhren, sondern sich inzwischen sogar schon hart an der Grenze des technisch noch Möglichen bewegten. Aber da haben sie dann, den Bahnhof von Schirnding schon fast vor Augen, nicht den Mut aufgebracht, die Lokomotive auf offener Strecke kalt zu machen, also das Feuer vom Rost zu entfernen, weil das unter Lokführern und Heizern als Blamage sondergleichen gilt – das war der dritte Fehler. Und was dann zwingend folgte, hatte er dem Zeitungsmenschen ja schon erläutert.

      Als Herkommer mit dem Reporter, der immer häufiger auf die Uhr geschaut hatte, wieder ins Freie trat, stand der Frühzug schon abfahrbereit auf dem Bahnsteig und zwei weitere Loks verließen gerade den Lokomotivschuppen.

      Das Gröbste war getan. Im Tschechischen drüben wurde der Himmel schon hell. Er würde nachher ausführlich mit Bayreuth telefonieren müssen. –

      12_Viktors und Ludwigs Wiedersehen und der Umsturz am 30. Januar 1933

      Vor ein paar Jahren schon, mit dem Einzug in das Internat, war bei Viktor ein gewisser Wandel eingetreten, den er wohl verspürte, den er aber noch immer nicht zu benennen, ja nicht einmal recht nachzuerleben vermochte. Er war ein anderer geworden. Ein anderer – aber welcher? Jedenfalls war er nicht mehr der Frühere. Aber auch der ging ihm in seiner Erinnerung immer mehr verloren. Weder der eine noch der andere zu sein, das war sein schwebender Zustand in den ganzen Jahren des Internats.

      Er wusste, er war lange nicht so vorlaut wie Ludwig, dieser alte Rüpel, von dem er so gerne wieder einmal gehört hätte; ja er war überhaupt nicht vorlaut; aber was ihn vor allem, gleich von Anfang an, gewürgt und ihm den Mund zugeschnürt hatte, das war dieses Heimweh gewesen, das alles ergriff, das alles, jede Regung, jedes Gefühl, jeden Gedanken sogleich überflutete und sodann aushöhlte und seines Sinnes beraubte und das manchmal so heftig war, dass er es als körperlichen Schmerz zu spüren glaubte. Als es ihm nach Monaten endlich bessergegangen war, hatte die Klasse seine Position als der Stille, der Nachdenkliche und der Zurückhaltende längst festgelegt, und er hatte sich auch selbst daran gewöhnt. Dabei war es geblieben, bei den Mitschülern, bei den Lehrern und bei den Mentoren, da kam er nicht mehr heraus.

      Viktor fiel nicht auf, niemandem, nicht im Guten und nicht im Bösen. Dabei war er keineswegs unbeliebt, aber er spielte im Gesamtbild der Klasse kaum eine Rolle. Dieter Pilgrim, der Klassensprecher, Sohn eines Generals, der ihn eigentlich mochte, das wusste er, und der neulich für ein Geländespiel die Besatzung der Burg, die verteidigt werden sollte, zusammenzustellen hatte und dabei immer wieder andere Strategien und Konstellationen ausprobierte, hatte schließlich alle Namen in der Klasse genannt, manche auch mehrmals, aber ihn einfach übersehen. Nicht ein einziges Mal war sein Name bei der Planung vorgekommen.

      Viktor war freundlich zu allen, aber er hatte keinen engen Freund, außer vielleicht einen gewissen Kontakt zu Dieter Pilgrim. Zu den Mädchen in der Klasse hielt er, obwohl sie ihm im Sport imponierten, scheue Distanz. Sein Blick auf die vergangenen Internatsjahre, aber auch jetzt noch auf die Gegenwart, das war wie der Blick durch eine daumendicke Glasscheibe; kristallklar, gewiss, aber alles, was er durch diese Scheibe sah, sein ganzes Internatsdasein, betraf ihn eigentlich nicht selbst.

      Von seinem Vater hatte er dieser Tage einen Brief erhalten, ziemlich ausführlich sogar, aber im Ganzen doch kühl wie meistens, was wohl daher rühren mochte, dass sein Vater auch seine private Post der Sekretärin zu diktieren pflegte. Er trug diesen Brief den ganzen Tag über mit sich herum, um immer wieder einmal hineinzuschauen und vielleicht doch noch etwas mehr herauslesen zu können als beim ersten gierigen Überfliegen. Es waren stets perfekte Briefe, die da von seinem Vater kamen, mit Schreibmaschine geschrieben, selbstverständlich fehlerfrei und auf teurem Briefpapier, aber wie gern hätte er doch einmal eine vollgekrakelte Ansichtskarte von ihm erhalten, mit kleinen Schreibfehlern und Korrekturen darin und ein paar Wasserflecken auf der Adresse und vielleicht mit einer noch schnell auf den Rand gekritzelten Schlussbemerkung, eine bunte Ansichtskarte von irgendwoher, vielleicht von einer seiner Geschäftsreisen in alle Welt, auch wenn dann viel weniger drinstünde als in diesen wohl abgezirkelten Briefen.

      Sein Vater hatte ihm geschrieben, es sei eine gute Idee, dass er die wenigen Ferientage verwenden wolle, sich in Erlangen erst einmal umzusehen, bevor er eine Entscheidung über seinen künftigen Studienort treffe; er möge aber nichts übers Knie brechen, er habe ja noch Zeit. Natürlich könne er gut verstehen, dass ihn neulich in Heidelberg diese vielen Braunhemden im Gebäude der Studentenschaft gestört oder sogar erschreckt hätten, zumal deren Träger ja besonders laut und zackig aufzutreten pflegten, aber er möge bei Gott nicht annehmen, dass das in Erlangen grundsätzlich anders sei und sollte deshalb Heidelberg, schon der Nähe wegen, weiterhin in der engeren Wahl belassen. Denn in Erlangen würde das über kurz oder lang genauso werden, die Franken seien seinem Eindruck nach für diese Hitlerideen besonders empfänglich, das habe er bei seinen häufigen Besuchen im Nürnberger Werk immer wieder gesehen, empfänglicher jedenfalls als die katholischen Bayern, und ihn schmerze eigentlich nur, dass auch die akademische Welt auf diese ebenso wirren wie gefährlichen Ideen so unglaublich anspreche. Dass Teile des Proletariats und vor allem das Kleinbürgertum leicht verführbar sind und da schnell Hurra schreien, das überrasche ihn nicht, aber dass die Akademiker in so großer Zahl mindestens ebenso engagiert mittun, darauf hätte er nicht einen Pfennig gewettet, und das sei eine seiner großen Enttäuschungen und beunruhige ihn. Es seien eben vor allem die Völkischen in allen möglichen Schattierungen, die es während seines Studiums, lange vor dem Krieg, auch schon gegeben habe – nationalistisch, rassenideologisch und militärbesessen. Und ihre heutigen Nachfahren, oft ehrgeizige Aufsteiger, neuer Mittelstand, glaubten nun, mit ihren verworrenen mystisch-fantastischen Idealen und ihren puppenstubigen Ordnungssehnsüchten am ehesten bei den Nationalsozialisten ein Echo zu hören. ‚Blubo und Brausi‘, so hätten sie sich schon damals über die Völkischen lustig gemacht – Blut und Boden, Brauchtum und Sitte. Im Übrigen solle er keinesfalls versäumen, seinen alten Busenfreund Ludwig aufzusuchen, der ja, wie er von dessen Vater wisse, jetzt in Nürnberg lebe. Es sei immer gut, einen Ortskundigen als Stützpunkt zu haben, bei allen seinen Reisen sei das stets eines seiner wichtigsten Prinzipien gewesen.

      Dieser Ratschlag seines alten Herrn wird sich leicht befolgen lassen, dachte Viktor, nachdem er ja, was er in seinem Brief an seinen Vater zu erwähnen vergessen hatte, nach Erlangen zusammen mit Dieter Pilgrim fahren würde, der in Nürnberg zu Hause war. Dessen Vater hatte ihn eingeladen, für die paar Tage bei ihnen in Nürnberg zu wohnen, und so würde er von dort aus den Ludwig ganz bestimmt mal aufsuchen. –

      Obwohl sie schon seit Jahren in derselben Klasse waren, wussten Viktor und Dieter Pilgrim nur wenig voneinander. Dieter war in der Schule der überragende Star, nicht nur Primus schon seit Jahren, sondern auch Klassensprecher und seit neuestem sogar der Schulsprecher. Daneben war Viktor fast unsichtbar. Auf der langen Bahnfahrt jedoch kamen sie sich rasch näher. Das war vor allem Dieters Verdienst, der sich auch wirklich Mühe gab; doch auch Viktor hatte sich vorgenommen, auf alles einzugehen