Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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– und bei einem Unfall einige Wochen vor dem großen Unglück wurde es ihm noch einmal ganz offenkundig –, dass er ‚enorm hart war im Nehmen‘, wie er sich das selbstbewusst zugutehielt, offenbar viel härter als alle anderen. Er ahnte, dass er diese Härte allein Tante Georgette zu verdanken hatte, damals bei der Tötung der jungen Kätzchen, an der er, wie er glaubte, beinahe zugrunde gegangen wäre; aber er hatte es, gestützt durch Tante Georgettes Lob, eben geschafft, so pries er sich selber, und sei dadurch schließlich zu einem stahlharten Mann geworden, der keinerlei Gefühlen unterlag. Viktor hatte geweint, er jedoch hatte sich durchgebissen! Das sah man eben auch bei diesem Unfall neulich, der der Katastrophe vorangegangen war.

      Bei ihrer Einfahrt in die Station von Neusorg war bei einem unseligen Spiel auf dem Bahnsteig ein kleines Mädchen im letzten Augenblick auf die Schienen geraten und von ihrer Lokomotive erfasst und überrollt worden. Frauen schrien auf und selbst raue Männer konnten die Tränen nicht unterdrücken, als sie Sekunden später das grauenhaft zerteilte Kind unter dem zweiten Wagen des mit der Notbremse gestoppten Zuges liegen sahen. Herkommer und sein Lokführer waren von ihrem Führerstand gesprungen, der Lokführer hatte sich auf eine Bank fallen lassen und saß nun zusammengekauert da, die Hände vor dem Gesicht, und schluchzte und rief stöhnend immer wieder, als ob er das Geschehene damit noch abwenden könne, „Nein!“, „Nein!“, „Nein!“, und dann packte er Herkommer, der neben ihm stand, mit beiden Händen am Unterarm und schüttelte ihn verzweifelt.

      Inzwischen waren atemlos der Stationsvorsteher und noch ein paar andere Bahnbedienstete herbeigeeilt, alle redeten sie gestikulierend und in erhöhter Stimmlage laut aufeinander ein und liefen dabei ziellos hin und her, keiner hörte auf den anderen, und nicht einer wusste, was er sagte.

      Herkommer stieg ruhig zu dem toten Kind hinunter auf das Gleisbett und legte die blutigen und schier nicht mehr identifizierbaren Teile nahe der Bahnsteigkante zu einem armselig kleinen Häuflein zusammen, über das er eine alte Decke breitete. In der Ruhe, die dabei von ihm ausging, wirkte er keineswegs gleichgültig, im Gegenteil, er strahlte einen viel größeren Ernst aus als all die Aufgeregten und Verzweifelten auf dem Bahnsteig. Er war wohl ebenso traurig über den Tod des Kindes und über den ganzen Vorfall, dachte er sich, aber ernsthaft berührt von diesem Unglück oder aufgewühlt oder gar fassungslos wie all die anderen war er nicht. Das Einzige, was ihn wirklich irritierte, das war nicht das Unglück und der Tod des Kindes, sondern dass die Frauen so unbeherrscht schrien und auch die Männer weinten, und sich alle so ganz anders verhielten als er, der wie ein stolzer Fels im Tosen der Gefühle stand und nicht zu erschüttern war.

      Das schrieb er seiner besonderen ‚Seelenstärke‘ zu, wie er später Eugen gegenüber prahlte, die aber in Wahrheit nichts anderes als eine Form zunehmender Gefühlsblindheit war, vielleicht tatsächlich ausgelöst, wie er meinte, durch das schreckliche Erlebnis der Katzentötung vor vielen Jahren, als sie noch Kinder waren. Eugen hatte dazu geschwiegen, während Frau Bohner, der er ebenfalls von dem Vorfall in der Station Neusorg und vor allem von seiner Bewährung dabei erzählte, nach erstem Entsetzen ein paar Tage später ihm erklärte, dass ihr schon öfter einmal der Gedanke gekommen sei, dass er, seelisch betrachtet, in vielem Bleisohlen an den Füßen haben müsse, was aber keineswegs unfreundlich gemeint sei, das wäre bei den meisten Männern so. –

      Es war schon fast Mitternacht, als Herkommer im Schirndinger Lokomotivschuppen vom Führerstand seiner Lok herunterstieg. Er hatte noch einige kleine Wartungsarbeiten erledigt, sein Lokführer war schon voraus ins Quartier gegangen. Eine der Lokomotiven fehlte noch, der Lokführer hatte vor einer Viertelstunde aus Mitterteich bei der Lokleitung angerufen, dass sie kein Wasser mehr im Tender hätten und wahrscheinlich noch frisches Wasser aufnehmen müssten.

      Aber da hörte er sie in der Stille der Nacht ganz in der Ferne schon kommen. „Das ist doch schneller gegangen“, dachte er, „vermutlich haben sie doch kein Wasser mehr aufgenommen.“ Und so konnte er das Tor des Lokomotivschuppens offen lassen. Dann verschob er unter großem Krafteinsatz an der Kurbel die leere Schiebebühne noch so, dass sie direkt einfahren konnten. Erst wollte er noch auf die beiden Männer warten, dann machte er sich aber doch auf den Weg ins Quartier.

      Seine Schritte hallten wider von der Häuserwand auf der anderen Straßenseite, und er lauschte auf die kleine Zeitverzögerung der Echos und setzte seine eisenbeschlagenen Absätze noch härter auf, dann hörte er den Zug langsam einfahren. Doch er war noch keine hundert Meter weitergegangen, als vom Bahngelände her überlaut ein ganz kurzes schrilles Zischen ertönte, fast wie ein Pfiff, mit einem unmittelbar folgenden und noch ungleich lauteren mächtigen Donnerschlag, während ihn fast im gleichen Augenblick eine gewaltige Druckwelle erfasste, die ihn beinahe zu Boden geworfen hätte.

      Das berstende Krachen und das Getöse der herumfliegenden Gebäudeteile – halbe Dachstühle, Stahltüren, Glassplitter, Dachziegel – und das vielfältige Echo dann von den Bergen herüber waren noch nicht verhallt, als Herkommer mit ebensolcher Plötzlichkeit klar wurde – augenblicklich und in allen Einzelheiten klar wurde –, was geschehen war.

      Das war kein logisches Schließen Schritt für Schritt, sondern eine sich spontan einstellende plötzliche Einsicht in ein kompliziertes Geschehen, das mit mehreren ineinandergreifenden Fehlern von Lokführer und Heizer begonnen hatte und mit einem katastrophalen Schlusspunkt endete. Diese Einsicht war schlagartig auf Herkommer eingestürzt, und schlagartig, das heißt: gleichzeitig mit allen aufeinander folgenden Phasen des Geschehens vom Anfang bis zum Ende. Dabei überraschte ihn nicht einmal so sehr die Vollständigkeit und auch nicht die Plötzlichkeit dieser Einsicht, sondern es überraschte ihn vor allem, wie diese Einsicht vom ersten Augenblick an mit der Gewissheit absoluter Richtigkeit ausgestattet war, ein Gefühl, wie es ihm bis dahin noch nie begegnet war.

      Und wie um die Bestätigung dafür einzuholen, blickte er zum Bahngelände zurück und sah im Staub und Qualm genau das, was er erwartet hatte. Die Lokomotive, die vom Zug schon abgekuppelt war, aber den Lokomotivschuppen noch nicht erreicht hatte, war, in tausend Stücke zerrissen, in die Luft geflogen; nur noch die Reste ihres Unterbaus waren zu erkennen, nicht einmal alle Räder standen mehr auf den Schienen.

      Dann trat erneut Stille ein, aber das war jetzt eine andere Stille. Eine lauernde und drohende Stille, eine Stille, die nur ausholte und die nur so lange währen sollte, bis die entsetzlichen Folgen erfasst worden sind, und die nichts gemein hatte mit jener sanften Stille, die noch vor wenigen Sekunden wie eine weiche Decke für die Nacht über dem kleinen Marktflecken ausgebreitet war.

      Schreiend und durcheinanderrufend kamen einige Bahnmitarbeiter angelaufen, die meisten nur halb bekleidet. Sie waren derart verwirrt, und manche von ihnen wirkten geradezu verzweifelt, dass Herkommer sofort klar wurde, dass er der Einzige war, der noch Überblick hatte und dass jetzt seine wichtigste Aufgabe darin bestehen würde, diesen Überblick zu bewahren. Er würde jedem nur eine einzige, klar umrissen Aufgabe zuweisen dürfen, sagte er sich, sonst rennen die alle nur hin und her, und es geschieht nichts.

      Als Erster stand plötzlich der Disponent, der von der Lokleitung herübergekommen war, hilflos neben ihm und schaute ihn mit offenem Mund fragend an.

      „Was wollen Sie hier, Menschenskind?“, fuhr er ihn barsch an. „Haben Sie denn schon die ganzen Notrufe abgesetzt? – Also los“, rief er möglichst laut, damit es alle hörten, „stehen Sie nicht herum, hauen Sie ab in ihr Büro, das ist jetzt das Allerwichtigste!“

      Dann nahm er sich einen großgewachsen älteren Lokführer vor, der völlig außer Atem war, aber wenigstens seine Dienstmütze dabeihatte, wenn er sie auch nur in der Hand hielt.

      „Sie sind mir dafür verantwortlich, dass das Bahngelände sofort abgesperrt wird. Schnappen Sie sich dazu noch ein paar Leute! Der einzige Zugang, der offenbleibt, ist dieser hier. Befugte Fahrzeuge winken Sie hier herein, das sind Sanitätskraftwagen, Feuerwehr, Ärzte, Polizei. Sonst kommt hier keine Maus durch! Verstehen Sie? Und setzen Sie Ihre Dienstmütze auf, Sie sind der Vertreter des Hausherrn!“

      Der Lokführer nickte, fast dankbar für die präzisen Vorschriften, die ihn jeder Entscheidung enthoben, und Herkommer sah, dass seine Unterlippe zitterte.

      „So, und Sie sorgen dafür“, wandte er sich an die beiden Nächsten, „dass alle Verletzten sofort zu den ersten