Seit Stunden brütet der Staatsanwalt über der Anklageschrift. Der erfahrene Untersuchungsrichter hatte schon Hunderte von Anklageschriften verfasst. Aber ein solcher Fall wie jener der getöteten Samira Maric war auch für ihn Neuland. Keine Fakten, bloss Vermutungen. Die einzige Gewissheit war, dass es sich bei der Toten wirklich um Samira Maric handelte, dies hatte die DNA-Analyse bestätigt. Der Staatsanwalt weiss, eine Anklageschrift muss möglichst kurz und präzise Tatort, Tatzeit und Todesart umschreiben. Dies verlangt die Strafprozessordnung, damit der Angeklagte weiss, wogegen er sich verteidigen muss. Der Staatsanwalt ist überzeugt, dass der Verteidiger die lückenhafte Anklageschrift erbarmungslos zerzausen wird, denn diese ist der Schwachpunkt. Ein Trost bleibt ihm: In der Vergangenheit gab es einen ähnlichen Fall. Gabor Bilkei, ein Tierarzt aus Dübendorf hatte seine Ehefrau Heike 1996 umgebracht. Die Leiche wurde nie gefunden, der abgetrennte Kopf erst ein Jahr später. Der Tierarzt bestritt die Tat zwar vehement, trotzdem wurde er in einem Indizienbeweis vom Geschworenengericht wegen vorsätzlicher Tötung zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl Ort, Zeit und Handlung der Tat nicht genau bestimmbar gewesen waren, wurde die Anklageschrift vom Bundesgericht dennoch akzeptiert.
Im Fall der Moorleiche Samira Maric waren Tatzeit, Tatort und Todesart ebenfalls unbekannt. Wann die Frau gestorben war, konnte der Rechtsmediziner nicht mehr eruieren. Aufgrund der Verwesungsspuren musste sie beim Auffinden schon einige Wochen tot gewesen sein. Als Tatort vermutet der Staatsanwalt die eheliche Wohnung am Stadtrand von Zürich. Das dritte Rätsel war die Todesart. Die Obduktion der Leiche hatte keine Hinweise auf schwere Gewalteinwirkungen ergeben. Die Rechtsmediziner fanden weder eine Erkrankung noch Gift- oder Alkoholspuren in ihrem Körper. Vermutlich war sie erstickt worden. Der Staatsanwalt schloss auch einen Selbstmord oder einen Unfall aus. Denn die Frau lag nur mit einem BH und einem Sweatshirt bekleidet im ungefähr ein Meter tiefen Wassertümpel und war mit einem Baumstrunk, mit Ästen und einer Autokardanwelle bedeckt. Zudem fanden Polizeitaucher bei der Bergung des toten Körpers zwei Gartenplatten aus Zement, die ebenfalls der Beschwerung dienten. Obwohl der Körper mit diesen Gegenständen bedeckt war, gelangte die Leiche wieder an die Wasseroberfläche – durch die Gase des Verwesungsprozesses.
Zoran Novak ist kein Mensch, den man als Sympathieträger bezeichnen würde. Der 51-jährige serbisch-schweizerische Doppelbürger ist Taxifahrer und war früher während 18 Jahren als Chauffeur bei den städtischen Verkehrsbetrieben tätig. Da er mehrmals mit dem Handy in der Hand am Bussteuer erwischt und schon früher wegen disziplinarischer Verfehlungen verwarnt wurde, musste er seinen Job aufgeben und wurde Taxifahrer. Auch privat lief es in der Ehe mit seiner Frau Samira nicht rund. Häufig gab es zwischen den beiden Streit, vor allem wegen Geld und seiner Untreue. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu seiner dritten Scheidung käme. Eine solche hätte für ihn allerdings Konsequenzen gehabt: Er hätte einen Teil seiner drei Häuser verloren, die er im Laufe der Zeit erworben hatte. Darunter auch das Reiheneinfamilienhaus am Stadtrand, in dem das Paar unweit des Tatorts wohnte. Hierin sah der Staatsanwalt auch das Tatmotiv, seine «fast krankhafte Gier nach Geld und Besitz». Dass es in der Ehe von Samira Maric und Zoran Novak kriselte, war auch der Polizei nicht verborgen geblieben. Denn während die Angehörigen in Bosnien sich grosse Sorgen machten, weil Samira Maric am Morgen des 4. Aprils nicht in Zagreb ankam, war Zoran Novak gänzlich unbesorgt. Erst auf wiederholtes Drängen der Angehörigen, machte er sich am nächsten Tag auf den Weg zur Polizei, um seine Frau als vermisst zu melden. Und während die aufwendigen Suche lief, rief er sie kein einziges Mal auf dem Handy an.
Novak kam als Tatverdächtiger in Untersuchungshaft. Dort stritt er jegliche Schuld ab, so dass es zu einem reinen Indizienprozess kam – kein Zeuge hatte die Tat gesehen oder etwas Verdächtiges gehört. Der Staatsanwalt musste das Gericht anhand eines Indizienmosaiks von der Schuld des Ehemannes überzeugen. Vielfach ist auch von einer Indizienkette die Rede, ein Begriff, der den Sachverhalt nicht genau erfasst. Denn bricht ein Glied aus dieser Kette, gehen hintere Teile der Kette verloren. Die (Indizien)-Kette ist unvollständig. Im Gegensatz dazu gibt ein Mosaik oder Puzzle ein Gesamtbild, auch wenn einzelne Teile fehlen. So ist eine bekannte Persönlichkeit in einem Mosaik zu erkennen, auch wenn im Gesicht noch Löcher sind.
Die «Moorleiche vom Katzensee» war ein Schulbeispiel der Forensik. Der Staatsanwalt listete rund ein Dutzend «harte» und «weiche» Indizien auf. Bei den «harten» Indizien spielten zwei alte Zementplatten, die im Wassertümpel gefunden wurden, die Hauptrolle. Es handelt sich um zwei Jahrzehnte alte Gartenplatten, mit denen der Täter die Leiche im Wasser beschwert hatte. Sie waren in einen Holzrahmen gegossen, dessen Unterlage eine Ausgabe des Tagblatts der Stadt Zürich vom 2. Februar 1939 bildete. Auf den beiden Platten waren die spiegelverkehrten Zeitungsabdrucke auch nach über 70 Jahren noch klar zu erkennen: so wurden unter anderem ein Vortrag über Arbeitsrecht an der Universität Zürich angekündigt, Grundpfandverwertungen veröffentlicht und Arbeiten für ein neues Hallenbad ausgeschrieben. Zwölf gleich alte Zementplatten haben die Polizisten im Garten vor dem Haus des Ehepaares gefunden – ebenfalls mit den gleichen spiegelverkehrten Zeitungsabdrucken. Die Platten lagen vermutlich schon im Garten, als Zoran Novak das Haus gekauft hatte. Für die chemische Analyse der Zementplatten zog die Polizei einen Fachmann für Baustoffe der Eidgenössischen Technischen Hochschule bei.
Die Zeitungsseiten des Tagblatts der Stadt Zürich vom 2. Februar 1939 waren auf den Zementplatten spiegelverkehrt abgedruckt.
Als wäre das Zementplatten-Indiz nicht schon genug beweiskräftig, zauberte der Staatsanwalt am Prozess noch ein zweites Indiz hervor, das vermutlich ebenfalls allein für einen Schuldspruch gereicht hätte. Es betraf die neun Kilogramm schwere Kardanwelle, die der Spaziergänger Alfred Sennhauser bei der toten Frau gesehen hatte. Die Welle, das Verbindungsstück zwischen Motor und Hinterachse, diente ebenfalls der Beschwerung der Leiche. Die Ermittlungen brachten ans Licht, dass diese Kardanwelle zwischen 1996 und 2004 in BMWs der Modelle 540i verbaut wurden. Ein Zeuge konnte sich daran erinnern, dass der Sohn von Zoran Novak einen solchen Wagen besessen hatte. Der Sohn stammte aus einer früheren Ehe des Mannes. Dieser hatte mit dem BMW in Serbien 2009 im Jahr zuvor einen Unfall mit Totalschaden gebaut und brachte das zerstörte Auto in die Schweiz, um die Einzelteile zu verkaufen. Das Getriebe samt Kardanwelle lagerte er im Garten des Einfamilienhauses seines Vaters. Er wollte die Teile auf der Internetplattform Ebay verkaufen.
Polizei-Recherchen ergaben, dass die Kardanwelle vom 31. März bis zum 7. April 2010 online zum Verkauf ausgeschrieben wurde – das Teil lag also am 3. April, dem mutmasslichen Tattag, noch im Garten. Auch, dass Zoran Novak bereits wenige Tage nach dem Verschwinden der Ehefrau deren Krankenkassenprämie sistieren wollte, ist für den Staatsanwalt ein Indiz, dass der Ehemann vom Tod seiner Frau gewusst haben musste. Weitere Indizien lieferten die Auswertung des Taxi-Fahrtenschreibers. Zoran Novak hatte in der Tatnacht exakt die Strecke zurückgelegt, die er von zu Hause zum Tatort brauchte, was Vergleichsfahrten der Polizei ergaben. Nur zwölf Minuten später fuhr er 1800 Meter weiter – zu seinem Stamm-Taxistandplatz ganz in der Nähe. In dieser Zeit hatte Nowak die Tote in einem Tümpel im Hänsiried versteckt, sie beschwert und mit Schilf und Ästen überdeckt. Dass der Mann sich in diesem Zeitraum im Haus oder der nahen Umgebung befand, konnte ebenfalls bewiesen werden: Sein Handy hatte sich in einer örtlichen