Stefan Hohler bevorzugt es, fundierte Recherchen zu publizieren und scheut sich auch nicht davor, bei politisch heiklen Themen mit spitzer Feder seine persönliche Meinung in Form eines Kommentars darzulegen, nachzuhaken, wenn etwas unklar ist, aber auch mal einen Schritt zurückzustehen und die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen.
Durch diese professionelle, ruhige, überlegte Vorgehensweise zeichnet sich der Buchautor aus, und er ist dennoch oder gerade deswegen stets auf der Höhe des Geschehens. Er ist ein Reporter, der zuerst reflektiert und dann berichtet. Darum erhält er nicht nur in Polizei- und Justizkreisen, sondern auch von Politikern und Medienschaffenden grosse Wertschätzung.
Marco Cortesi, Leiter Mediendienst Stadtpolizei Zürich
Einleitung
In den 15 Jahren, die ich beim Zürcher Tages-Anzeiger als Polizei- und Gerichtsreporter tätig war, habe ich über Hunderte von Prozessen und unzählige Unfälle und Verbrechen berichtet. Dabei erhält man einen Einblick in menschliche Abgründe, die einem sonst verschlossen sind. Vor Gericht erhalten die Täter, die bislang der breiten Öffentlichkeit meist unbekannt waren, erstmals ein Gesicht. Während des Prozesses wird das Delikt auch aus ihrer Optik beschrieben, die oft diametral zur Anklageschrift steht.
In meinem Buch stelle ich 13 Mordfälle vor, eine Auswahl der spektakulärsten Fälle. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Vierfachmord von Rupperswil. Dieses brutale Verbrechen hat landesweit für Entsetzen gesorgt und auch mich von all den in den letzten Jahren erlebten Fällen weitaus am meisten erschüttert. Der vierzehnte Fall ist eine verrückte Liebesgeschichte, eine Amour fou, die von der Flucht einer Gefängnisaufseherin mit einem Häftling erzählt.
Die Texte basieren auf eigenen Unterlagen, Gerichtsakten sowie eigenen und fremden Zeitungsartikeln. Die meisten beginnen mit einem szenischen Einstieg, bei dem ich mir eine gewisse journalistische Freiheit erlaubt habe. Dann aber halte ich mich an die realen Aussagen der Beschuldigten, Angehörigen, Staatsanwälte oder Richter. Einzig beim Kapitel über den Vierfachmord in Rupperswil habe ich mich nur chronologisch an den Tatverlauf gehalten. Abschluss der blutigen Artikelserie ist ein unblutiges Thema: die dramatische Flucht des Ausbrecherpärchens aus dem Gefängnis Limmattal in Dietikon nach Italien.
Die Namen von Opfern und Tätern im Buch habe ich geändert, ausser die in den Medien bereits namentlich erwähnten Personen: Céline Franck (Kopfschuss), Robert Frommherz (Hanfpapst), Ladarat und Mike A. (Sadist), Thomas N. und seine vier Opfer (Vierfachmord), Mario Filardi (Junkies), Gino Bornhauser (Spurlos verschwunden) sowie Angela Magdici und Hassan Kiko (Flucht).
Bis auf das letzte Kapitel der Amour fou handelt es sich bei den beschriebenen Fällen um Tötungsdelikte. Das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) qualifiziert sie verschieden, die wichtigsten Tötungsdelikte sind:
Vorsätzliche Tötung: Die meisten Tötungsdelikte fallen unter diese Kategorie. Die Minimalstrafe liegt nicht unter fünf Jahren, die Maximalstrafe beträgt 20 Jahre.
Mord: Für die Mordqualifizierung muss der Täter besonders skrupellos und verwerflich bezüglich Tatmotiv, Zweck der Tat oder Tatausführung gehandelt haben. Das Strafmass liegt zwischen zehn Jahren und einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe; Lebenslänglich bedeutet, dass eine bedingte Entlassung nach 15 Jahren möglich ist. Sie kann aber grundsätzlich bis zum Ableben des Täters vollzogen werden.
Totschlag: Hier muss der Täter in einer entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung gehandelt haben. Das Strafmass liegt zwischen einem und zehn Jahren. Entschuldbar muss nicht die eigentliche Tötung, sondern die Gemütsbewegung oder die seelische Belastung sein.
Weitere Tötungsdelikte sind: Tötung auf Verlangen, Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord, Kindestötung, sowie fahrlässige Tötung.
Moorleiche
Mit Schlagzeilen wie «Die Moorleiche» oder «Die Tote vom Katzensee» hat ein Tötungsdelikt im April 2010 in der Öffentlichkeit für grosses Aufsehen gesorgt. Die Klärung des Falls ist ein Meisterwerk der Forensik. Die Arbeit der Kriminaltechniker erinnert an die TV-Serie «CSI - Crime Scene Investigation».
Den 1. Mai, den Tag der Arbeit, nimmt Alfred Sennhauser wörtlich: Der selbständige Pensionskassenberater und Mathematiker arbeitet und wälzt Akten bis am Abend. Auf der Heimfahrt mit dem Auto von Zürich zu seiner Wohnung in einer Vorortsgemeinde kommt er am Katzensee vorbei, einem Naturschutzjuwel im Norden der Stadt. Sennhauser will nach diesem anstrengenden Tag vor dem Nachtessen in einem Restaurant noch schnell die Beine vertreten und ein wenig frische Luft schnappen. Diesen Entscheid wird der 50-Jährige in den nächsten vier Wochen noch unzählige Male bereuen.
Sennhauser parkiert den Wagen beim Hänsiried, einem Flachmoor, das an den Katzensee angrenzt und nur auf ausgeschilderten Wegen betreten werden darf. Gedankenversunken schlendert er durch die Riedlandschaft. Schmale Trampelwege führen in die Moorlandschaft hinein zu den inzwischen abgerissenen Wochenendhäuschen. Er geniesst die idyllische Abendstimmung mit quakenden Fröschen und Seerosen bedeckten Tümpeln. Plötzlich bleibt Sennhauser wie angewurzelt stehen. Er traut seinen Augen nicht: Da liegt eine Schaufensterpuppe im Tümpel. Unglaublich was die Leute alles entsorgen, ärgert er sich. Als er sich dem Tümpel nähert, zuckt er zusammen: Das ist ja keine Puppe, das ist eine Leiche! Nur der Oberkörper ragt aus dem Wasser, bekleidet mit einem Sweatshirt. Die auf dem Rücken liegende Tote ist schon stark verwest. Der rechte Arm ist nach hinten gedreht, der Kopf ruht auf der Hand. Der linke Arm umfasst einen Birkenstamm, der über ihrem Körper liegt. Weitere Äste und Schilfhalme bedecken den Rumpf. Zusätzlich ist der Körper mit einer Metallstange beschwert – einer so genannten Kardanwelle (Antriebswelle) eines Autos.
In der Sendung «Einstein» im April 2015 von SRF wurde über die Spurensicherung der Polizei beim Mordfall am Katzensee berichtet.
Sennhauser alarmiert die Polizei, die mit einem Grossaufgebot ausrückt: Spurensicherung, Staatsanwalt, Rechtsmediziner und weitere Spezialisten. Der Pensionskassenberater, der zuhause jeweils mit Vergnügen die amerikanische Gerichtsmediziner-TV-Sendung «CSI, den Tätern auf der Spur» schaut, ist in seinem Element. Er erklärt den Polizisten, dass die Frau sicher schon seit einem Monat tot sein müsse, denn darauf deute der Verwesungsgrad. Eine Aussage, die sich als wahr erweist. Der Hobbyermittler bricht nun aus ihm heraus und scherzhaft meint er: «Ich könnte auch der Mörder sein, der zum Tatort zurückkehrt.» Diese und weitere Spekulationen machen die Polizisten misstrauisch. Die Handschellen klicken, und Sennhauser wird als Tatverdächtiger abgeführt. Erst knapp einen Monat später wird er aus der Untersuchungshaft entlassen. Zwar wird er finanziell entschädigt, ärgert sich aber über die lange Haftdauer.
Einen knappen Monat zuvor, am Morgen des 4. April, stand ein junger Mann in Kroatien am Busbahnhof in Zagreb und wartete auf seine Mutter aus Zürich. Doch Samira Maric tauchte nicht auf. Der Sohn erkundigte sich beim Busunternehmen, aber ihr Name stand auch nicht auf der Passagierliste. Er versuchte sie anzurufen, aber die Mutter konnte den Anruf nicht entgegennehmen: Denn die 49-jährige Bosnierin war tot. Der Sohn aus erster Ehe wollte die Mutter