Mademoiselle Cormon galt für eine der reichsten Personen der Stadt: der arme Junge war also durch das Begehren nach materiellem Glück, durch den tausendmal gehegten Wunsch, die alten Tage seiner Mutter zu verschönen, durch die Sehnsucht nach einer behaglichen Existenz, die für geistig arbeitende Menschen so notwendig ist, dahin gebracht worden, sie zu lieben, und dieser recht unschuldige Ausgangspunkt entehrte seine Liebe in seinen Augen. Er fürchtete überdies, dass die Welt sich über die Liebe eines jungen Mannes von dreiundzwanzig Jahren zu einer Vierzigjährigen lustig machen würde. Trotzdem war seine Leidenschaft echt; denn alles, was auf diesem Gebiete sonst überall unpassend erscheinen muss, ist in der Provinz möglich. In der Tat, da die Sitten dort ohne Gewagtheiten, ohne Bewegung, ohne Geheimnis sind, machen sie die Heiraten notwendig. Keine Familie nimmt einen jungen Mann von lockeren Sitten auf. So natürlich in einer großen Stadt ein Liebesverhältnis zwischen einem jungen Mann wie Athanase und einem schönen Mädchen wie Suzanne erscheinen würde, in der Provinz ist es von Übel. Ein anstößiges Vorleben vereitelt von vornherein die Heirat eines armen jungen Mannes, während bei einer reichen Partie natürlich ein Auge zugedrückt wird. Zwischen der Verderbtheit gewisser Verhältnisse und einer echten Liebe kann ein vermögensloser gemütvoller Mann nicht zaudern: er zieht die Leiden der Tugend den Leiden des Lasters vor. Aber in der Provinz sind die Frauen, in die sich ein junger Mann verlieben kann, selten: ein schönes, reiches junges Mädchen würde in einem Lande, wo alles Berechnung ist, nie die Seine werden; ein armes schönes Mädchen zu lieben ist ihm untersagt, denn das hieße, wie die Provinzialen es ausdrücken, den Hunger mit dem Durst vermählen; eine mönchische Einsamkeit ist jedoch der Jugend unzuträglich. Diese Gründe geben die Erklärung, warum das Provinzleben so vornehmlich auf der Ehe begründet ist. Daher müssen glühende, heftig begehrende Naturen, die gezwungen sind, sich aus ihrer Notlage eine Unabhängigkeit zu schaffen, aus jenen kalten Regionen fliehen, wo das Geistesleben von einer brutalen Gleichgültigkeit verfolgt wird, wo keine Frau das Los eines Mannes der Wissenschaft oder eines Künstlers teilen möchte oder könnte. Wer vermag die Leidenschaft, die Athanase für Mademoiselle Cormon hegte, zu begreifen? Weder die Reichen, diese Sultane der Gesellschaft, die ihre Harems dort finden, noch die Spießbürger, welche auf der ausgetretenen Landstraße der Vorurteile einhertrotten, noch die Frauen, die der Leidenschaft der Künstler verständnislos gegenüberstehen und ihnen als Erwiderung ihre Tugenden entgegenhalten, weil sie glauben, dass die beiden Geschlechter von denselben Gesetzen regiert werden. Hier muss man sich wohl an die jungen Menschen wenden, die in der Zeit, wo alle ihre Kräfte sich spannen, unter ihren ersten unterdrückten Begierden leiden; an die an ihrem Genie krankenden Künstler, die in der Umklammerung der Not ersticken; an die mit Talenten Begabten, die oft jeden Halts und aller Freunde entbehren und über die doppelte Pein des Leibes und der Seele, welche gleiche Schmerzen verursachen, schließlich doch Sieger geblieben sind. Alle diese kennen die nagenden Schmerzen, die Athanase verzehrten; sie alle haben angesichts der großen Ziele, zu denen ihnen die Wege abgeschnitten waren, lange, ratlose Erwägungen in ihrem Hirn hin und her gewälzt; sie alle haben das Verdorren der Hoffnungskeime erfahren, wenn der Same des schaffenden Genies auf dürren Sand fällt. Sie wissen, dass die Kraft der Begierden im Verhältnis zu der Größe der Phantasie steht. Je höher sie sich aufschwingen, desto tiefer fallen sie; und wie viele Bande reißen nicht bei solchem Sturz! Ihr glühendes Auge hat wie Athanase eine Zukunft voll Glanz erblickt, die sie erwartete und von der sie sich nur durch einen dünnen Flor getrennt glaubten; diesen Flor, der ihre Blicke nicht aufhielt, hat die Gesellschaft in eine Mauer aus Erz verwandelt. Von einer Berufung, von der Liebe zur Kunst getrieben, haben sie wohl auch manchmal versucht, sich Gefühle, die die Gesellschaft fortwährend materiell ausnützt, zweckdienlich zu machen. Was! In der Provinz werden die Heiraten ganz und gar zu dem Zweck geschlossen, sich ein behagliches Dasein zu schaffen, und einem armen Künstler, einem Mann der Wissenschaft sollte es verboten sein, der Ehe eine doppelte Bestimmung zu geben, sie als Mittel zu gebrauchen, sich durch eine sichere Existenz die Möglichkeit der Gedankenarbeit zu schaffen? Von solchen Ideen bewegt, betrachtete Athanase Granson anfangs die Heirat mit Mademoiselle Cormon von dem Gesichtspunkt, dass er dadurch in den Stand gesetzt würde, seinem Leben eine bestimmte abschließende Richtung zu geben; er würde den Weg des Ruhms einschlagen, seine Mutter glücklich machen können, und er hielt sich für fähig, Mademoiselle Cormon treulich zu lieben. Bald schuf sich sein eigener Wille, ohne dass er dessen gewahr wurde, eine echte Leidenschaft: er beschäftigte sich eingehend mit dem alten Mädchen, und schließlich, durch den Zauber, den die Gewohnheit webt, kam er dazu, nur noch das Schöne in ihr zu sehen und ihre Fehler zu vergessen. Bei einem jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren haben die Sinne einen so großen Teil an der Liebe! Ihre Glut erzeugt eine Art Prisma zwischen seinen Augen und der Frau. In dieser Hinsicht ist die Umarmung, in der sich Cherubin auf der Bühne Marcellines bemächtigt, ein genialer Zug bei Beaumarchais. Aber wenn man bedenkt, dass in der tiefen Einsamkeit, in welche die Not Athanase versenkte, Mademoiselle Cormon das einzige Wesen war, das seine Blicke anhaltend auf sich zog, und dass sie vom vollen Tageslicht beschienen war, wird man da nicht diese Liebe begreiflich finden? Das so sorgfältig verborgene Gefühl wuchs von Tag zu Tag. Die Wünsche, die Leiden, die Hoffnung, die Überlegung ließen den See, der sich in Athanases Seele ausbreitete und den jede Stunde um einen Tropfen Wassers vermehrte, still und allmählich anschwellen. Je mehr der innere Kreis, den die durch die Sinne gesteigerte Phantasie beschrieb, sich erweiterte, desto unnahbarer wurde Mademoiselle Cormon, desto mehr nahm die Schüchternheit Athanases zu. Die Mutter hatte alles erraten. Als echte Frau der Provinz berechnete sie naiv im Innern alle Vorteile dieser Sache. Sie sagte sich, dass sich Mademoiselle Cormon sehr glücklich schätzen müsste, einen hochbegabten jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren, der der Familie und dem Lande Ehre machen würde, zum Gatten zu bekommen; aber die Hindernisse, die die Armut von Athanase und das Alter Mademoiselle Cormons in den Weg legten, schienen ihr unübersteigbar: sie wusste kein anderes Mittel, sie zu überwinden, als die Geduld. Wie Du Bousquier, wie der Chevalier de Valois, hatte wie ihre Politik, sie lauerte den Umständen auf, sie wartete mit der ganzen Schlauheit, die der mütterliche Eigennutz verleiht, auf den günstigen Moment. Dem Chevalier de Valois misstraute Madame Granson keineswegs, aber sie war der Meinung, dass Du Bousquier, obwohl er einen Korb bekommen hatte, noch Ansprüche gehend machte. Madame Granson war die geheime und sehr gewandte Feindin des alten Lieferanten und fügte ihm erhebliches Übel zu, um ihrem Sohn, dem sie übrigens noch nichts von ihren heimlichen Umtrieben gesagt hatte, zu nützen. Wer begriffe jetzt nicht, welche Bedeutung die Lüge Suzannes, wenn sie sie erst einmal Madame Granson anvertraut hatte, erlangen musste! Welche Waffe in den Händen der Wohltätigkeitsdame, der Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins! Wie sie die Neuigkeit leise herumtragen und mitleidig frömmlerisch für die keusche Suzanne Almosen sammeln würde!