Zwei Monate später erst erfuhr ich, dass sie diese Nacht in schrecklichen Ängsten verbracht hatte; sie fürchtete, dass ihr Sohn den Keuchhusten bekäme. Und ich, ich saß im Boot, von Liebesgedanken sanft gewiegt; ich bildete mir ein, dass sie mich von ihrem Fenster aus sähe, wie ich den Schein der Kerze anbetete, die gerade ihre von Todesangst durchfurchte Stirn beleuchtete. Damals herrschte in Tours Keuchhusten und richtete furchtbares Unheil an.
Als wir an der Tür waren, sagte mir der Comte mit gerührter Stimme: »Madame de Mortsauf ist ein Engel.« Dieses Wort machte mich schwankend. Ich kannte die Familie erst oberflächlich, und das so natürliche Bedenken, das eine junge Seele bei ähnlichen Anlässen befällt, rief mir zu: ›Mit welchem Recht trübst du diesen tiefen Frieden?‹
Der Comte war erfreut, einen jungen Mann zum Zuhörer zu haben, dem er leicht imponieren könnte. Er sprach von der Zukunft Frankreichs, wie sie die Rückkehr der Bourbonen gestalten würde. Wir führten eine zerfahrene Unterhaltung, in deren Verlauf ich wahre Kindereien zu hören bekam, die mich seltsam überraschten. Dem Comte waren Tatsachen von einleuchtender Beweiskraft unbekannt. Er fürchtete Leute, die viel wissen; jegliche Art von Überlegenheit verleugnete er; er verspottete, vielleicht mit Recht, den Fortschritt; endlich entdeckte ich in ihm eine große Anzahl wunder Stellen, die zu äußerst schonender Vorsicht zwangen, so dass eine längere Unterhaltung ein wahres Kunststück wurde. Als ich seine Mängel gewissermaßen betastet hatte, passte ich mich ihnen an mit derselben Geschmeidigkeit, mit der die Comtesse sie liebkoste. Zu einer andern Zeit meines Lebens hätte ich ihn höchstwahrscheinlich verletzt; da ich aber schüchtern war wie ein Kind und mir einbildete, nichts zu wissen, oder doch glaubte, dass fertige Männer alles wissen müssten, blickte ich voller Staunen auf die wunderbaren Resultate, die der geduldige Landwirt in Clochegourde erzielt hatte. Voller Bewunderung hörte ich seinen Plänen zu. Schließlich trug mir eine unwillkürliche Schmeichelei das Wohlwollen des alten Edelmannes ein: ich sagte ihm, dass ich ihn um seine hübsche Besitzung und ihre Lage beneide, dieses Paradies auf Erden, das ich hoch über Frapesle stellte.
»Frapesle«, sagte ich, »ist ein massives Silbergefäß, aber Clochegourde ist ein Kästchen voll köstlicher Edelsteine.« Diesen Satz hat er seither, mit Angabe des Autors, oft genug wiederholt. »Ja, ehe wir hierherkamen, war es eine Wüste«, antwortete er.
Ich war ganz Ohr, wenn er von seinen Saaten, von seinen Baumschulen sprach. Ein Neuling in allen landwirtschaftlichen Dingen, überhäufte ich ihn mit Fragen über Preise, über Ausbeutung des Bodens, und er schien beglückt, mich über so viele Einzelheiten belehren zu können.
»Was bringt man Ihnen denn in Schulen bei?« fragte er mich verwundert.
Schon an jenem ersten Tage sagte der Comte bei der Rückkehr zu seiner Frau: »Monsieur Felix ist ein reizender junger Mann.«
Am Abend schrieb ich meiner Mutter, bat sie, mir Kleider und Wäsche zu schicken, und teilte ihr mit, dass ich in Frapesle bliebe. Ich wusste nichts von den großen Umwälzungen, die damals vor sich gingen, und ahnte nicht, welchen Einfluss sie auf meine Geschichte haben sollten. So glaubte ich, dass ich nach Paris zurückkehren würde, um mein juristisches Studium zu beenden, und die Vorlesungen fingen erst Anfang November wieder an; es lagen also zweieinhalb freie Monate vor mir.
Zu Anfang meines Aufenthalts versuchte ich, in ein vertrautes Verhältnis zum Comte zu kommen, und es war eine Zeit peinlicher Eindrücke. Ich entdeckte eine Reizbarkeit, die sich, ohne jeden Grund, verletzt fühlte, überhasteten Tatendrang in verzweifelten Fällen: das alles erschreckte mich. Bisweilen loderte in ihm plötzlich der Mut des Edelmannes auf, der sich in der Armee Condés ausgezeichnet hatte. Wie Kometen schossen Willensblitze in ihm auf, so wie sie in Zeiten des Aufruhrs bombengleich in die politische Welt hineinsausen und die, wenn sie sich von ungefähr mit Mut und Ehrenhaftigkeit verbinden, aus einem schlichten Landedelmann, der zu einem zurückgezogenen Leben gezwungen war, einen d'Elbée, Bonchamps oder Charette machen. Bei gewissen Vermutungen spitzte sich seine Nase zu, seine Stirn erhellte sich, seine Augen schleuderten Blitze, die alsbald wieder abflauten. Ich fürchtete, dass, wenn Monsieur de Mortsauf die Sprache meiner Augen entzifferte, er mich auf der Stelle totschlüge. Damals war ich nur zärtlich: der Wille, der die Menschen so wunderbar verwandelt, begann sich in mir erst zaghaft zu regen. Meine maßlosen Süchte versetzten meine Empfindsamkeit in rasche Schwingungen, die oft einem Angstzittern glichen. Ich schreckte vor dem Kampfe nicht zurück, aber ich wollte das Leben nicht verlieren, ohne das Glück einer erwiderten Liebe gekannt zu haben. Die Schwierigkeiten und meine Wünsche wuchsen in gleichem Maße. Wie sollte ich von meinen Gefühlen sprechen? Ich war ein Raub der traurigsten Verwirrung. Ich wartete auf einen Zufall, ich beobachtete; ich befreundete mich mit den Kindern und gewann ihre Liebe; ich versuchte, mich dem Ton des Hauses anzupassen. Schon hielt sich der Comte weniger vor mir zurück. Ich bemerkte seinen plötzlichen Stimmungswechsel, seine unbegründeten Anfälle von Schwermut, seine raschen Aufwallungen, seine bitteren und schneidenden Klagen, seine gehässige Kälte, seine zurückgedämmten Wahnsinnsausbrüche, seine unberechenbaren wütenden Ausfälle. Ich hörte ihn ächzen wie ein Kind und schreien wie einen Verzweifelten.
Die seelische Welt unterscheidet sich von der physischen dadurch, dass es in ihr keine absoluten Gesetze gibt: die Nachdrücklichkeit der Wirkung ist abhängig von der Beschaffenheit der Charaktere oder von den Ideen, die wir um eine Tatsache gruppieren. Mein Verhalten in Clochegourde, meine ganze Zukunft hingen von dem unberechenbaren Willen des Comte ab. Es lässt sich nicht beschreiben, welch quälende Angst meine Seele zusammenschnürte – meine Seele, die sich gleich schnell öffnete und verschloss –, wenn ich mir beim Eintreten sagte: ›Wie wird er mir begegnen?‹ Welche Beklemmung erdrückte mein Herz, wenn ich plötzlich auf seiner weißen Stirn Gewitterwolken sich ansammeln sah. Ich war immer auf dem Sprung. Ich erlag dem Despotismus dieses Menschen, und meine eigenen Leiden gaben mir den Maßstab für die, die Madame de Mortsauf ausstand. Wir fingen an, verständnisvolle Blicke zu tauschen, meine Tränen flossen oft, wenn sie die ihren zurückhielt. Die Comtesse und ich, wir maßen uns im Leid. Wie viele Entdeckungen machte ich doch während jener ersten vierzig Tage voll wirklicher Schmerzen und unausgesprochener Freuden, voll Hoffnungen, die bald in den Grund gebohrt wurden, bald obenauf schwammen!
Eines Abends fand ich sie in Andacht versunken vor einem Sonnenuntergang, der die Gipfel in wollüstiges Rot tauchte, während er das Tal wie ein Lager im Dämmer ließ, so dass es unmöglich war, nicht die Klänge des ewigen Liedes der Lieder herauszuhören, mit dem die Natur ihre Geschöpfe zur Liebe lädt.
Fand das junge Mädchen seine entschwundenen Illusionen wieder? Schmerzte die Frau ein heimlicher Vergleich? Ich glaubte, in ihrer Haltung eine gewisse Abspannung zu bemerken, die den ersten Geständnissen dienlich schien, und sagte: »Es gibt im Leben so schwere Tage!« – »Sie haben in meiner Seele gelesen«, sagte sie; »aber wie war es möglich?« – »Es gibt zwischen uns so viele Berührungspunkte«, antwortete ich. »Gehören wir nicht zu der kleinen Zahl bevorzugter Wesen, die für Leid und Freude doppelt empfänglich, deren Gemütssaiten alle aufeinander abgestimmt sind und durch ihre gleichen Schwingungen große, volle Töne hervorrufen und deren Nervenleben im Einklang mit dem Urgrund aller Dinge steht?... Wenn solche Menschen in einem Konzert von Missklängen leben, leiden sie furchtbar, wie anderseits ihre Freude bis zur Verzückung sich steigert, wenn sie Gedanken, Empfindungen oder Wesen begegnen, die ihnen innerlich verwandt sind. Aber es ist für uns ein dritter Zustand möglich, dessen Leiden nur den Seelen bekannt sind, die an derselben Krankheit leiden und bei denen sich brüderliches Verstehen findet. Wir können guten wie schlimmen Eindrücken verschlossen sein. Eine Orgel, reich an klangvollen Registern, spielt in der Leere unsers Herzens, braust in gegenstandsloser Leidenschaft, bringt Töne hervor, ohne sie zu Melodien zu formen, und wirft ihre Klänge hinaus in lautlose Stille. Das ist der furchtbare Widerstreit in einer Seele, die sich gegen die Nutzlosigkeit des Nichts