Die Lilie im Tal. Оноре де Бальзак. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Оноре де Бальзак
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955013370
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kostete Genüsse, deren er von Haus aus unfähig gewesen wäre. Dann, nach längerem Eheleben, beschloss sie, Clochegourde nie zu verlassen. Sie hatte die hysterische Natur des Comte erkannt, deren Willkür in einem Lande der boshaften Klatschsucht ihren Kindern hätte schaden können. Niemand ahnte die tatsächliche Unfähigkeit Monsieur de Mortsaufs. Sie hatte die Ruinen mit einem dichten Efeumantel umkleidet. Das unharmonische Wesen des Comte, der nicht unzufrieden, aber missvergnügt war, stieß bei seiner Frau auf sanfte Nachgiebigkeit, und er stellte sich unter ihren Schutz, weil er bei ihr lindernden Balsam für seine geheimen Schmerzen fand.

      Das alles ist eine kürze Zusammenfassung der Gespräche, die Monsieur de Chessel, seinem geheimen Unwillen nachgebend, mit mir führte. Seine Weltkenntnis hatte ihn einige der Geheimnisse enträtseln lassen, die in Clochegourde begraben lagen. Aber wenn es Madame de Mortsauf dank ihrer heldenhaften Selbstbeherrschung gelang, die Welt zu täuschen, so vermochte sie nicht, den untrüglichen Instinkt zu überlisten. Als ich allein in meinem kleinen Zimmer war, trieb mich die Ahnung des wirklichen Sachverhalts aus dem Bett; ich hielt es nicht aus, in Frapesle zu sein, Wenn ich anderswo die Fenster ihres Zimmers sehen konnte. Ich kleidete mich an, schlich mich hinunter und verließ das Schloss durch die Tür eines Turmes, der eine Wendeltreppe hatte. Die Kühle der Nacht beruhigte mich. Ich überschritt die Indre auf der Moulin-Rouge-Brücke und gelangte zum glückseligen Boot in der Nahe Clochegourdes, dessen letztes Fenster, nach Azay zu, beleuchtet war. Ich fand meine früheren Verzückungen wieder, aber sie waren friedlicher, und darin klang das Schlagen der Nachtigall, der Sängerin der Liebesnächte, deren langgezogene Töne über dem Wasser schwebten. In mir erwachten Gedanken, die gespensterhaft über meine Seele glitten, die Trauerschleier lüftend, die mir bisher meine schöne Zukunft verhüllt hatten. Seele und Sinne waren in gleichem Maße entzückt. Mit welcher Leidenschaftlichkeit stieg mein Sehnen bis zu ihr empor. Wie oft sagte ich mir, wie ein Verrückter, immer dasselbe: »Werde ich sie besitzen?« Während der vorhergehenden Tage war die Welt mir gewachsen, in einer einzigen Nacht ordnete sie sich für mich um einen Mittelpunkt. An sie knüpften sich meine Willensregungen, meine ehrgeizigen Gedanken; ich wünschte, alles für sie zu sein, um ihr zermartertes Herz zu heilen und es auszufüllen. Herrlich war jene Nacht, die ich unter ihren Fenstern verbrachte, umrauscht von den Wassern der Mühlschleusen, während vom Turm zu Saché der Stundenschlag die Stille unterbrach. In jener lichtgebadeten Nacht, wo sie, meine Blume, mein Stern, in mein Leben hineinleuchtete, vermählte ich ihr meine Seele mit der Inbrunst, die wir beim armen kastilischen Ritter des Cervantes verlachen, die aber aller Liebe Anfang ist. Beim ersten Morgengrauen, beim ersten Vogelschrei flüchtete ich mich in den Park von Frapesle; niemand gewahrte mich, niemand ahnte meinen nächtlichen Spaziergang. Ich schlief, bis die Glocke Mittag läutete. Trotz der Hitze stieg ich nach Tisch hinunter in die Wiese, um die Indre und ihre Inseln, das Tal und die Hügelketten wiederzusehen, als deren leidenschaftlicher Bewunderer ich galt. Aber flinker als ein entronnenes Pferd eilte ich zu meinem Boot, meinen Weiden und meinem Clochegourde. Es war ganz still, und die heiße Mittagsluft zitterte. Regungslose Blätter hoben sich scharf vom blauen Himmel ab. Insekten, die vom Lichte leben, grüne Libellen und Wasserfliegen flogen von Esche zu Esche, von Schilf zu Schilf. Die Herden ruhten wiederkäuend im Schatten, die rote Weinbergerde glühte, Blindschleichen glitten die Böschung entlang.

      Welch ein Wechsel in dieser Landschaft, die vor meinem Schlaf so frisch, so anmutig war! Plötzlich sprang ich aus dem Boot und stieg den Weg nach Clochegourde hinan. Kam dort nicht der Comte? Ich irrte mich nicht, er ging an einer Hecke entlang und wollte wahrscheinlich zu einer Tür, die auf den Uferweg nach Azay führte.

      »Wie geht es Ihnen heute, Monsieur le Comte?« Er sah mich beglückt an, denn er war diese Anrede nicht gewöhnt. »Gut!« sagte er. »Sie lieben wohl die Natur sehr, dass Sie bei dieser Hitze spazierengehen?« – »Hat man mich nicht hierher geschickt, damit ich möglichst viel im Freien sei?« – »Schön! Wollen Sie mit mir kommen und zusehen, wie man meinen Roggen mäht?« – »Aber gern«, sagte ich. »Ich muss gestehen, dass ich von einer unglaublichen Unwissenheit bin. Ich kann nicht Roggen von Weizen oder eine Pappel von einer Espe unterscheiden. Ich weiß nichts vom Landbau und von den verschiedenen Methoden, wie man die Felder bewirtschaftet.« – »Gut!« sagte er. »Kommen Sie!« Und fröhlich kehrte er um. »Gehen Sie durch das obere Pförtchen!« Wir stiegen den Pfad hinauf, er jenseits, ich diesseits der Hecke. »Sie würden bei Monsieur de Chessel von alledem nichts lernen«, sagte er mir. »Er spielt zu sehr den großen Herrn und tut nichts als höchstens die Rechnungsbücher seiner Verwalter durchsehen.«

      So zeigte er mir denn seine Höfe und Wirtschaftsgebäude, die Ziergärten, die Obst- und Gemüsegärten. Endlich führte er mich zu der langen Akazienallee am Bachrand, an deren entgegengesetztem Ende auf einer Bank ich Madame de Mortsauf erblickte; sie war mit ihren beiden Kindern beschäftigt. Eine Frau ist im Rahmen feinen, zitternden Laubwerks wundervoll! Sie mochte wohl über meine kindliche Hast erstaunt sein, aber sie erhob sich nicht, da sie wohl wusste, dass wir zu ihr hinkämen. Der Comte hieß mich die Aussicht aufs Tal bewundern, das von diesem Punkt aus ein ganz anderes Bild bot als das bekannte, das ich bisher von der Höhe gesehen hatte. Fast glaubte man ein Stückchen Schweiz vor sich zu haben. Die Wiesen, von Bächen, die sich in die Indre stürzen, durchfurcht, strecken sich lang hin und verschwimmen in nebelhaften Fernen. Auf der Seite von Montbazon dehnt sich eine riesige grüne Fläche; überall sonst nur Hügel und Felsen. Wir beschleunigten den Schritt, um Madame de Mortsauf zu begrüßen, die plötzlich das Buch, in dem Madeleine las, fallen ließ und Jacques, der von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wurde, auf die Knie nahm.

      »Was fehlt ihm?« rief der Comte erbleichend. »Er hat Halsschmerzen«, antwortete die Mutter, die mich nicht zu sehen schien; »es hat nichts zu bedeuten.«

      Sie hielt ihm gleichzeitig Kopf und Rücken. Aus ihren Augen drangen zwei Strahlen, die Lebenswärme über dies elende kleine Geschöpf ergossen.

      »Sie sind von einem unverantwortlichen Leichtsinn!« sagte der Comte bitter. »Sie setzen ihn der Kälte am Bach aus und erlauben ihm, auf einer Steinbank zu sitzen.« – »Aber Vater, die Bank ist ja brennend heiß!« rief Madeleine. »Da oben ersticken sie vor Hitze«, sagte die Comtesse. »Die Frauen wollen doch immer recht haben«, sagte er zu mir gewandt.

      Um nicht zu erwidern und ihm nicht durch einen zustimmenden oder missbilligenden Blick antworten zu müssen, beobachtete ich Jacques, der über Halsschmerzen klagte und den seine Mutter wegführte. Beim Weggehen konnte sie die Worte ihres Mannes hören: »Wenn man so kränkliche Kinder zur Welt gebracht hat, sollte man es wenigstens verstehen, sie zu pflegen!«

      Abscheulich ungerechte Worte! Aber seine Selbstliebe trieb ihn dazu, sich auf Kosten seiner Frau zu rechtfertigen. Die Comtesse flog die Treppen und die Terrassen hinauf. Ich sah sie durch die Glastür verschwinden. Monsieur de Mortsauf hatte sich auf die Bank gesetzt, nachdenklich und gesenkten Hauptes. Meine Lage wurde unerträglich. Er sah mich weder an, noch sprach er. Es war aus mit dem Spaziergang, den ich hatte benutzen wollen, um mich endgültig in seiner Sympathie einzunisten ... Ich erinnere mich nicht, in meinem Leben eine abscheulichere Viertelstunde verbracht zu haben. Der Schweiß stand mir in hellen Tropfen auf der Stirn, ich fragte mich: ›Soll ich gehen, soll ich nicht gehen?‹ Wieviel traurige Gedanken müssen in ihm aufgestiegen sein, dass er vergaß, nach dem Befinden seines Sohnes zu sehen! Er stand unvermittelt auf und kam zu mir. Wir drehten uns um und betrachteten das fröhliche Tal.

      »Wir wollen unsern Spaziergang auf einen andern Tag verlegen, Monsieur le Comte«, schlug ich dann freundlich vor. »Nein, gehen wir!« antwortete er. »Ich bin leider an derartige Krisen gewöhnt, ich, der ich ohne Bedenken mein Leben hingäbe, um dieses Kind zu erhalten.«

      »Jacques geht es besser, mein Freund, er schläft«, sagte die Goldstimme. Madame de Mortsauf tauchte plötzlich am Ende der Allee auf. Sie kam ohne Bitterkeit, ohne Groll und antwortete auf meinen Gruß: »Ich sehe mit Freuden, dass sie Clochegourde liebhaben.«

      »Liebe, wünschen Sie, dass ich ein Pferd nehme und Monsieur Deslandes hole?« fragte der Comte, um Verzeihung für seine Ungerechtigkeit von vorhin zu erlangen. »Machen Sie sich keine Sorge!« sagte sie. »Jacques hat die letzte Nacht nicht geschlafen, das ist alles. Das Kind ist furchtbar nervös, es hat einen bösen Traum gehabt, und ich habe lange Zeit gebraucht, um es durch Geschichtenerzählen wieder zum