»Gut, ich werd' Euch Hemden schicken.«
»Meinem armen Jungen geht es also schlechter?« fragte die Mutter.
»Man darf nichts Gutes erwarten, Mutter Colas; er ist so unvernünftig gewesen, zu singen; scheltet ihn aber nicht aus, fahrt ihn nicht an, habt Mut. Wenn Jacques zu sehr klagen sollte, lasst mich durch eine Nachbarin holen. Lebt wohl.«
Der Arzt rief seinen Gefährten und schritt auf den Pfad zurück.
»Der kleine Bauernbursche ist brustkrank?« fragte Genestas.
»Mein Gott, ja,« antwortete Benassis. »Wenn nicht ein Wunder in der Natur geschieht, kann ihn die Wissenschaft nicht retten. Unsere Professoren an der Pariser medizinischen Fakultät haben uns häufig von dem Phänomen erzählt, dessen Zeuge Sie soeben gewesen sind. Gewisse Krankheiten dieser Art erzeugen in den Stimmorganen Veränderungen, die den Kranken für den Augenblick die Fähigkeit verleihen, Gesänge ertönen zu lassen, deren Vollendung von keinem Virtuosen erreicht werden kann ... Ich hab' Sie einen traurigen Tag verbringen lassen, mein Herr,« sagte der Arzt, als er zu Pferde saß. »Überall Leiden und überall Tod, aber auch überall Resignation. Die Landleute sterben alle ganz philosophisch, sie leiden, schweigen und legen sich nach Art der Tiere nieder. Doch reden wir nicht mehr vom Tode und beschleunigen wir den Schritt unserer Pferde: wir müssen noch vor Nacht den Flecken erreichen, damit Sie den neuen Teil desselben sehen können!«
»Ei! da ist irgendwo Feuer,« sagte Genestas, auf eine Stelle im Gebirge hinweisend, wo eine Feuergarbe aufwirbelte.
»Dieses Feuer ist nicht gefährlich. Zweifelsohne macht unser Kalkbrenner einen Ofen voll Kalk. Diese jüngst entstandene Industrie nützt unser Heideland aus.«
Ein Büchsenschuss knallte plötzlich; Benassis ließ sich einen unwillkürlichen Ausruf entschlüpfen und sagte mit einer ungeduldigen Bewegung:
»Wenn das Butifer ist, wollen wir doch sehen, wer von uns beiden der Stärkere ist.«
»Dort hat man geschossen,« sagte Genestas, einen oberhalb von ihnen im Gebirge gelegenen Buchenwald bezeichnend. »Jawohl, da oben; glauben Sie dem Ohre eines alten Soldaten!«
»Auf, sofort hin!« rief Benassis, der, sich in gerader Richtung nach dem kleinen Holz wendend, sein Pferd durch die Gräben und Felder fliegen ließ, wie wenn es sich um ein Kirchturmrennen handelte; so sehr wünschte er den Schützen auf frischer Tat zu ertappen.
»Der von Ihnen gesuchte Mensch bringt sich in Sicherheit!« rief ihm Genestas zu, der ihm nur mit Mühe folgte.
Benassis ließ sein Pferd schnell kehrtmachen, ritt zurück, und der gesuchte Mann zeigte sich bald auf einem jähen Felsen, hundert Fuß über den beiden Reitern.
»Butifer,« rief Benassis, als er eine lange Flinte sah, »komm herunter!«
Butifer erkannte den Arzt und antwortete mit einem respektvoll-freundschaftlichen Zeichen, das auf völligen Gehorsam hindeutete.
»Verstehen kann ich,« sagte Genestas, »dass ein von der Furcht oder irgendeinem heftigen Gefühle erfasster Mensch auf diese Felsspitze da hat hinaufklettern können; wie aber will er es anstellen, wieder herunterzukommen?«
»Da bin ich nicht in Sorge,« antwortete Benassis, »die Ziegen dürften auf den Leichtfuß da eifersüchtig sein. Sie werden ja sehen.«
Durch die Kriegsereignisse gewöhnt, Männer nach ihrem inneren Werte zu beurteilen, bewunderte der Major die ungewöhnliche Schnelligkeit, die elegante Sicherheit der Bewegungen Butifers, während er den zerklüfteten Hang des Felsens entlang hinabstieg, auf dessen Gipfel er kühn gelangt war. Des Jägers gertenschlanker und kräftiger Körper brachte sich mit Grazie in allen Stellungen ins Gleichgewicht, die des Weges steile Abdachung ihn einzunehmen zwang; er setzte den Fuß ruhiger auf eine Felszacke, als er ihn auf ein Parkett gesetzt haben würde, so sicher schien er, sich dort im Notfall halten zu können. Seine lange Flinte handhabte er, wie wenn er nur einen Stock in der Hand hielte. Butifer war ein junger Mann von mittlerer, aber magerer und nerviger Figur, dessen männliche Schönheit Genestas überraschte, als er ihn in der Nähe sah. Sicherlich gehörte er der Klasse der Schmuggler an, die ihren Beruf ohne Gewalttätigkeit ausüben und nur mit List und Geduld arbeiten, um den Fiskus zu betrügen. Er hatte ein männliches, sonnenverbranntes Gesicht. Seine hellgelben Augen funkelten wie die eines Adlers, mit dessen Schnabel seine dünne, an der Spitze leicht gebogene Nase viel Ähnlichkeit hatte. Seine Backenknochen waren mit Flaumhaaren bedeckt. Sein roter, halb offener Mund ließ Zähne von einem blendenden Weiß sehen. Sein roter Kinn-, Schnurr- und Backenbart, den er wachsen ließ und der sich natürlich kräuselte, erhöhte den männlichen und Furcht einflößenden Ausdruck seines Gesichtes noch. An ihm war alles Kraft. Die Muskeln seiner beständig geübten Hände besaßen eine merkwürdige Festigkeit und Dicke. Seine Brust war breit und auf seiner Stirn lag eine wilde Intelligenz. Er hatte die unerschrockene und entschlossene, aber ruhige Miene eines Mannes, der gewöhnt ist, sein Leben zu wagen und seine körperliche oder intellektuelle Kraft in Gefahren jeglicher Art so oft erprobt hat, dass er nicht mehr an sich zweifelt. Er war mit einer von Dornen zerrissenen Bluse bekleidet und trug an seinen Füßen Ledersohlen, die mit Aalhäuten befestigt waren. Eine geflickte, zerrissene blaue Leinenhose ließ seine schlanken roten Beine sehen, die mager und nervig waren wie die eines Hirsches.
»Sie sehen da den Mann, der einst einen Büchsenschuss auf mich abgegeben hat,« sagte Benassis mit leiser Stimme zu dem Major. »Wenn ich jetzt den Wunsch äußerte, von irgendwem befreit zu werden, würde er ihn bedenkenlos töten. – Butifer,« fuhr er, sich an den Wilddieb wendend, fort, »ich habe dich wahrhaftig für einen Ehrenmann gehalten, und hab' mein Wort verpfändet, weil ich deins hatte. Mein Versprechen dem Grenobler Staatsanwalt gegenüber stützte sich auf deinen Schwur, nicht mehr zu jagen und ein ordentlicher, sorgsamer, arbeitsamer Mensch zu werden. Du hast eben den Büchsenschuss abgegeben und befindest dich im Revier des Grafen von Labranchoir. He! wenn sein Wächter dich gehört hat, Unglücksmensch? Zu deinem Glücke werd' ich kein Protokoll aufnehmen, du würdest rückfällig sein und hast keinen Waffenschein. Aus Willfährigkeit habe ich dir um deiner Anhänglichkeit an die Waffe willen deine Flinte gelassen.«
»Sie ist schön,« sagte der Major, der eine Saint-Étienner Entenflinte erkannte.
Der Schmuggler wandte seinen Kopf nach Genestas hin, wie um ihm für diese beifällige Äußerung zu danken.
»Butifer,« sagte Benassis fortfahrend, »dein Gewissen muss dir Vorwürfe machen. Wenn du dein altes Handwerk wieder anfängst, wirst du dich noch einmal in einem mit Mauern eingeschlossenen Pferch finden; keine Protektion könnte dich dann vor den Galeeren retten; du würdest dann gebrandmarkt. Heute Abend noch wirst du mir deine Flinte bringen, ich will sie dir aufheben!«
Butifer presste das Rohr seiner Waffe mit einer krampfhaften Bewegung an sich.
»Sie haben recht, Herr Bürgermeister,« sagte er, »ich hab' unrecht; ich habe meinen Bann gebrochen, bin ein Hund. Mein Gewehr muss zu Ihnen wandern, aber Sie werden meine Erbschaft haben, wenn Sie's mir nehmen. Der letzte Schuss, den meiner Mutter Sohn abgeben wird, soll meinen Hirnkasten treffen ... Was wollen Sie? Ich habe getan, was Sie gewollt haben; hab' mich den Winter über ruhig verhalten; im Frühling aber war die Kraft zu Ende. Ich kann nicht mehr arbeiten, mein Herz steht mir nicht danach, mein Leben damit zuzubringen, Geflügel fett zu machen; ich kann mich weder bücken, um Gemüse zu hacken, noch beim Wagenfahren die Peitsche in die Luft knallen, noch einen Pferderücken im Stall striegeln; ich muss also vor Hunger krepieren? Nur da oben kann ich gut leben!« sagte er nach einer Pause, in die Berge zeigend. »Seit acht Tagen bin ich dort; ich hatte eine Gämse gesehen, und die Gämse ist dort,« sagte er, auf die Höhe des Felsens hindeutend, »sie steht Ihnen zur Verfügung! Mein guter Monsieur Benassis, lassen Sie mir mein Gewehr! Hören Sie, bei Butifers Ehrenwort! ich werde die Gemeinde verlassen und will in die Alpen gehen, wo die Gämsenjäger mir nichts in den Weg legen werden; ganz im Gegenteil, sie werden mich mit Freuden aufnehmen und ich will dort in irgendeiner Gletscherspalte krepieren. Um offen zu sein: sehen Sie, ich will lieber ein oder zwei Jahre so auf den Höhen leben, ohne weder der Regierung, noch Zöllnern, noch Flurschützen, noch dem Staatsanwalt zu