Fosseuse: wenn graues und trübes Wetter herrscht, ist sie traurig und ›weint mit dem Himmel‹; das ist ihr eigener Ausdruck. Sie singt mit den Vögeln; sie beruhigt sich und wird mit dem Himmel heiter; endlich wird sie an einem schönen Tage schön. Ein zarter Duft ist ein beinahe unerschöpfliches Vergnügen für sie. Einen ganzen Tag über sah ich sie nach einem jener Regenmorgen, welche die Seele der Blumen öffnen und dem Tage unsagbare Frische und Glanz verleihen, den Duft genießen, den Reseden ausströmten; mit der Natur, mit allen Pflanzen hatte sie sich entfaltet. Wenn die Atmosphäre drückend und elektrisierend ist, hat die Fosseuse Beschwerden, die nichts beruhigen kann; sie legt sich ins Bett und klagt über tausend verschiedene Leiden, ohne zu wissen, was ihr fehlt. Wenn ich sie frage, antwortet sie mir, ihre Knochen würden weich und ihr Fleisch löse sich in Wasser auf. Während solcher leblosen Stunden fühlt sie das Leben nur durch das Leiden; ihr Herz ist ›außerhalb von ihr‹, um Ihnen noch eines ihrer Worte anzuführen. Manchmal hab' ich das arme Mädchen weinend beim Anblicke gewisser Bilder überrascht, die in unseren Bergen beim Sonnenuntergange sichtbar werden; wenn viele und prachtvolle Wolken sich über unseren goldenen Berggipfeln vereinigen. ›Warum weinen Sie, meine Kleine?‹ fragte ich sie. – ›Ich weiß es nicht,‹ antwortete sie mir; ›ich bin wie von Sinnen, wenn ich das da droben betrachte, und ich weiß vor lauter Sehen nicht, wo ich bin.‹ – ›Aber was sehen Sie denn?‹ – ›Ich kann es Ihnen nicht sagen.‹ Dann möchten Sie sie den langen Abend über noch soviel fragen, Sie würden von ihr nicht ein einziges Wort hören; sie würde Ihnen gedankenvolle Blicke zuwerfen oder mit feuchten Augen, schweigsam, sichtlich gesammelt, verharren. Ihre Sammlung ist so tief, dass sie sich mitteilt; wenigstens wirkt sie dann auf mich wie eine mit Elektrizität überladene Wolke. Eines Tages hab' ich sie mit Fragen bedrängt, ich wollte sie mit aller Gewalt zum Sprechen bringen und sagte ihr einige allzu lebhafte Worte; – ja, mein Herr, da brach sie in Tränen aus. In anderen Augenblicken ist die Fosseuse froh, artig, lachlustig, lebhaft und geistreich; sie plaudert mit Vergnügen und äußert neue, originelle Gedanken. Übrigens ist sie unfähig, sich irgendeiner fortlaufenden Arbeit zu widmen: wenn sie in die Felder geht, bleibt sie ganze Stunden über mit dem Ansehen einer Blume beschäftigt, betrachtet das fließende Wasser und beschaut sich die malerischen Wunder, die sich unter den klaren und ruhigen Gewässern zeigen, jene hübschen, aus Kieseln, Erde, Sand, Wasserpflanzen, Moos und braunen Niederschlägen zusammengesetzten Mosaiken, deren Farben so mild sind und deren Töne so seltsame Kontraste bilden. Als ich ins Land kam, starb das arme Mädchen Hungers. Gedemütigt wie sie war, fremdes Brot anzunehmen, nahm sie zur öffentlichen Barmherzigkeit nur in dem Augenblicke ihre Zuflucht, wo sie durch äußerstes Leiden dazu gezwungen wurde. Oft verlieh ihr die Scham Energie. Einige Tage lang verrichtete sie dann Landarbeit; schnell erschöpft, zwang sie eine Krankheit, ihre begonnene Arbeit aufzugeben. Kaum war sie wiederhergestellt, als sie sich in irgendeiner Meierei der Nachbarschaft einstellte, indem sie bat, dort für die Tiere sorgen zu dürfen; nachdem sie aber ihren Pflichten mit Umsicht nachgekommen war, verließ sie die Stellung, ohne zu sagen weshalb. Zweifelsohne war ihre Tagesarbeit ein zu drückendes Joch für sie, die ganz Unabhängigkeit und ganz Laune ist. Dann schickte sie sich an, Trüffeln oder Champignons zu suchen und verkaufte sie in Grenoble. Durch Schnurrpfeifereien angezogen, vergaß sie in der Stadt ihr Elend, und da sie nun ein paar Sous besaß, kaufte sie sich Bänder, Flitterkram, ohne an ihr Brot für den kommenden Tag zu denken. Wenn dann irgendein Mädchen des Fleckens sich ihr Kupferkreuz, ihr Jeannettenherz oder ihr Samtbändchen wünschte, gab sie es ihr, glücklich, ihr eine Freude machen zu können; denn sie lebt durch ihr Herz. Auch war die Fosseuse der Reihe nach geliebt, beklagt und missachtet. Das arme Mädchen litt an allem, an ihrer Trägheit, ihrer Güte, ihrer Gefallsucht; denn sie ist gefallsüchtig, naschhaft und neugierig, kurz, sie ist ein Weib. Mit kindlicher Naivität überlässt sie sich ihren Eindrücken und ihren Neigungen. Erzählen Sie ihr irgendeine schöne Handlung, so bebt und errötet sie, ihr Busen wogt, sie weint vor Freude. Wenn Sie ihr eine Diebsgeschichte erzählen, wird sie vor Schrecken blass. Sie ist die wahrste Natur, das aufrichtigste Herz und die zartfühlendste Rechtschaffenheit, der man begegnen kann; wenn Sie ihr hundert Goldstücke anvertrauten, würde sie sie in einer Ecke vergraben und weiter um ihr Brot betteln.« Benassis' Stimme ward erregt, als er diese Worte sagte. »Ich habe sie prüfen wollen, mein Herr,« fuhr er fort, »und ich hab' es bereut. Ist eine Prüfung nicht Spionage, mindestens Misstrauen?«
Hier hielt der Arzt inne, wie wenn er eine heimliche Erwägung anstellte, und bemerkte die Verwirrung nicht, in die seine Worte seinen Gefährten versetzt hatten, der, um seine Verlegenheit nicht merken zu lassen, sich damit beschäftigte, seines Pferdes Zügel in Ordnung zu bringen. Benassis ergriff das Wort bald wieder:
»Ich würde meine Fosseuse verheiraten, würde gern eine meiner Meiereien irgendeinem braven Burschen geben, der sie glücklich machen könnte, und sie würde es sein. Ja, das arme Mädchen würde ihre Kinder unendlich lieben, und alle Gefühle, die sie überreichlich besitzt, würden sich in das ergießen, welches beim Weibe alles umfasst, in die Mütterlichkeit; doch kein Mann hat ihr zu gefallen gewusst. Sie ist indessen von einer für sie gefährlichen Sensibilität; sie weiß es und hat mir das Geständnis ihrer nervösen Empfänglichkeit gemacht, als sie sah, dass ich sie bemerkte. Sie gehört zu der kleinen Zahl Frauen, bei denen die geringste Berührung ein gefährliches Beben hervorruft; deshalb muss man ihrer Klugheit und ihrem Frauenstolz Dank wissen. Sie ist scheu wie eine Schwalbe. Ach, welch eine reiche Natur! Sie war dazu geschaffen, eine im Behagen lebende geliebte Frau zu sein; sie wäre wohltätig und beständig gewesen. Mit zweiundzwanzig Jahren siecht sie bereits unter der Last ihrer Seele dahin und wird ein Opfer ihrer allzu vibrierenden Fibern, ihrer zu starken oder zu zarten Organisation. Eine verratene lebhafte Leidenschaft würde sie wahnsinnig machen, meine arme Fosseuse! Nachdem ich ihr Temperament studiert, nachdem ich die Tatsache ihrer langwierigen Nervenanfälle, ihre elektrische Empfänglichkeit festgestellt, nachdem ich sie in offenbarer Übereinstimmung mit den Wechselfällen der Atmosphäre, mit den Mondveränderungen gefunden hatte – ein Faktum, das ich sorgfältig geprüft –, hab' ich mich ihrer angenommen, mein Herr, wie eines Geschöpfes, das anders geartet ist wie die übrigen Menschen, dessen krankhafte Existenz nur von mir begriffen werden konnte. Sie ist, wie ich Ihnen sagte, das Bänderlamm. Doch Sie werden sie jetzt sehen, da ist ihr Häuschen!«
In diesem Augenblick waren sie etwa auf ein Drittel Höhe des Berges angelangt, auf von Buschwerk umsäumten Zickzackwegen, die sie im Schritt erklommen. Als sie die Biegung einer dieser Schleifen erreicht hatten, erblickte Genestas das Haus der Fosseuse. Es lag auf einem der Hauptbuckel des Berges. Dort war eine etwas abfallende Rasenfläche von annähernd drei Arpents, die mit Bäumen bepflanzt war und von mehreren Kaskaden genetzt wurde, mit einer kleinen Mauer umgeben worden, die hoch genug, um als Einfriedigung zu dienen, aber nicht so hoch war, dass sie den Blick ins Land versperrt hätte. Das aus Ziegelsteinen erbaute und mit einem flachen Dache, das einige Fuß über den Rand vorsprang, gedeckte Haus, bot in der Landschaft einen reizenden Anblick. Es bestand aus einem Erdgeschoß und einem ersten Stockwerk mit grüngestrichener Tür und Fensterläden. Nach Süden gelegen, hatte es weder Breite noch Tiefe genug, um andere Öffnungen wie die der Fassade zu haben, deren ländliche Eleganz in peinlichster Sauberkeit bestand. Das vorspringende Wetterdach war nach deutscher Weise mit weiß gestrichenen Planken gefüttert. Einige blühende Akazien und andere wohlriechende Bäume, Rotdorne, Schlinggewächse, ein dicker Nussbaum, den man hatte stehen lassen, dann einige an den Bächen entlang gepflanzte Trauerweiden wuchsen um das Haus herum. Hinter ihm befand sich ein dichter Buchen- und Fichtenwald, ein breiter dunkler Grund, von dem sich das hübsche Bauwerk lebhaft abhob. In diesem Augenblick des Tages war die Luft von den verschiedenen Düften des Berges und des Gartens der Fosseuse geschwängert. Der reine und ruhige Himmel war am Horizonte bewölkt. In der Ferne begannen die Gipfel die lebhaften roten Tinten anzunehmen, die ihnen der Sonnenuntergang häufig verleiht. Von dieser Höhe aus übersah man das ganze Tal von Grenoble bis zu jener kreisförmigen Felsenschranke, an deren Fuß der kleine See liegt, an welchem Genestas am Vortage vorübergekommen war. Oberhalb des Hauses und in einer ziemlich großen Entfernung erschien die Pappelreihe, welche die große Straße vom Flecken nach Grenoble anzeigte. Endlich glänzte der Flecken, von den schrägen Sonnenstrahlen getroffen, wie ein Diamant, indem er aus all seinen Fensterscheiben rote Lichter widerstrahlte, die zu rieseln schienen. Bei diesem Anblick hielt Genestas sein Pferd an, wies auf die Gebäulichkeiten des Tales, den neuen Flecken und das Haus der Fosseuse