Das harmlose sinnige deutsche Märchen (vielleicht eines der vielen französischen) kann Balzac recht gut zu seiner Dichtung angeregt haben. Deutsche Literaturwerke las man ja damals viel in Frankreich. »Faust«, Schillers Dramen, Jean Pauls »Titan«, ein paar Novellen Tiecks, namentlich aber E. Th. A. Hoffmann lernte man sogar aus Übersetzungen kennen. Diesem schrieb man auch die Einführung des Zuges in Balzacs »Chagrinleder« zu, daß die anfänglich natürliche Erzählung allmählich ins Phantastisch-Orgiastische verfließt. (Sainte-Beuve und die »Revue des deux mondes« 1834, IV. Band, Seite 448.) Aber mochte Balzac, der ein Bewunderer von Hoffmanns Kunst war, vieles dem deutschen Dichter abgesehen haben, im »Chagrinleder« könnte er ihm höchstens die recht äußerliche und mit dem Ganzen in losester Verbindung stehende Einkleidung zu danken haben. Wenn das geheimnisvolle »Chagrinleder« Raphael jede Verkürzung seiner Lebenszeit sinnfällig vor Augen führt, so ist dies nur die romantische Symbolisierung des weit krasseren und realistischeren Motivs, daß der Held der Novelle von seinem Innern unaufhörlich an das jähe Ende seines polykrateischen Daseins gemahnt wird. Aus mystischen, katholisierenden Gedanken, wie solche bei Balzac ja häufig wiederkehren, ist Raphaels Angst vor Vergeltung für diese immer neu eintretenden Glücksumstände, die sich aber auf durchaus natürlichem Wege einstellen und nur durch eine geheimnisvolle Kraft herbeigewünscht erscheinen, leicht zu erklären.
Im »Chagrinleder« ist bereits alles ausgebildet, was Balzacs Größe ausmacht; des Dichters reife, realistische Kunst feiert ihre stärksten Triumphe, und auch seine Mängel kommen prägnant zur Anschauung. Jedenfalls ist er jetzt ein Fertiger, Gefesteter, der nicht tastend neue Formen suchen oder fremden Vorbildern folgen muß. Vielmehr war jetzt er der vielumworbene literarische Tagesgötze, dem ein willenloser Troß erfolgsuchender Nachbeter auf Schritt und Tritt folgte. Psychologische Charakterentwicklung, Schilderung der sozialen Verderbnis, Greuel und Entsetzen – das war die Ware, die von ein paar begabten Dichtern, aber mehr noch von vielen literarischen Flachköpfen in Frankreich verschleißt wurde. Scott wurde nicht entthront: man suchte erst seine und Balzacs Reizmittel zu verschmelzen und etwa die Vergangenheit als Spiegel für die Gegenwart hinzustellen. Aber bald erwiesen sich der Franzose und seine Kunst als die stärkeren, und lärmend und ungehemmt brauste bald der Korybantenzug der sozialen und realistischen Romancíers durch die französische Hauptstadt.
Auf Deutschland und Österreich übte Balzacs Auftreten noch lange nicht diese suggestive Wirkung aus. Das mag verwunderlich erscheinen; war man doch gerade hier immer blinder literarischer Erfolgsanbeter, namentlich wenn es galt, französisches Gut einzuführen und nachzuahmen. Daß das letztere nicht geschah und niemand mit einem eigenen Werke auf Balzacs Spuren einherging, ist unschwer zu erklären; einmal war niemand da, dem diese realistische Richtung kongenial gewesen wäre (die zwanzig- und fünfundzwanzigjährigen Gutzkow und Laube kamen als Novellisten noch nicht in Betracht), dann aber war ein sofortiges energisches Eingreifen aller Zensuren mit größter Sicherheit zu erwarten, wenn nur ein schüchterner Versuch gewagt worden wäre, Balzacs Farben und Töne zu kopieren. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß die sonst in deutschen Ländern prompt einsetzende Übersetzungsmaschinerie sich merkwürdig spät an Balzac heranmachte. Es ist ein Irrtum des vortrefflichen letzten deutschen Balzacbiographen, Wilhelm Weigand, wenn er in seinem schätzenswerten Essay sagt, Balzacs Bücher hätten sofort nach ihrem Erscheinen in Rußland und Österreich eifrige Leser gefunden. Von Rußland kann es zugegeben werden, fand ja der Dichter schon 1831 hier seine begeistertste Leserin, jene wundersame »Fremde«, die in sein Leben so schicksalsschwer eingriff. Aber in Österreich war um diese Zeit nicht einmal sein Name bekannt. Keine Zeitung nennt ihn, nicht der kleinste Hinweis findet sich, daß auch nur das geringste Interesse für den Dichter und seine Werke bestanden hätte. Das darf nicht wundernehmen; boten die damaligen Wiener Redakteure ihren Lesern doch immer nur das, was sie aus deutschen Zeitschriften herausschneiden konnten, die den alleinigen Nährboden für ihre diletierende, plündernde Journalistik bildeten. Aber auch in Deutschland war, was in jeder Hinsicht verblüffend ist, selbst von dem indes berühmt gewordenen Balzac keine Rede. –
Zwar Goethe hat einzelnes von ihm noch kennen gelernt. Unter dem 8. und 10. März 1830 erfährt man bei Soret, beziehungsweiseEckermann, daß er Balzacs Werke durch Vermittlung Davids als Autorgeschenk verehrt erhalten habe. Vom »Chagrinleder« wissen wirsogar (vgl. Goethes Gespräche IV. 434), daß er darüber mit Soret am 27. Februar 1832 sprach. – Börne begeisterte sich an den»Scènes de la vie privée« (vgl. den nach Alfred Klaars Zählung, in den Hesseschen Klassikerausgaben VI, 124 und VI, 133, achtzigsten und zweiundachtzigsten Pariser Brief) und interessierte sich für die »Physiologie der Ehe« (ib. VI, 133) [* Eine unbedeutende Bemerkung über »La Peau de chagrin« in Börnes 104, Pariser Brief (ib. VI, 258), auffallenderweise nichts bei Heine, obwohl er Balzac in den »Geständnissen« seinen Freund nennt] . Sonst aber hat Balzac in Deutschland keinen Anklang gefunden. Die Hamburger »Literarischen Blatter der Börsenhalle«, die ausschließlich mit Übersetzungen ihre Spalten füllten, ließen ihn gänzlich unbeachtet, während sie z. B. vieles von Charles Nodier, dem heute allzuwenig Gewürdigten, auftischten. Hells »Abendzeitung«, sonst keine Kostverächterin alles dessen, was aus Frankreich kam, schon wegen des Übersetzereifers des Herausgebers, brachte nur »El Verdugo« (1830, Nr. 61 – 63) als »Episode aus dem spanischen Kriege 1809« und in einem »Pariser Brief« ein flüchtiges Lob des »Chagrinleders«, dafür (1832, Nr. 100) scharfe Angriffe auf die »Contes drolatiques«. Mit Befehdung Balzacs war man in Deutschland überhaupt weniger sparsam als mit Anerkennung oder nur Erwähnung. Obwohl »Die Chouans« dem deutschen Geschmacke der Zeit sehr entgegengekommen wären, erschien vorläufig keine Übersetzung oder Besprechung. Dafür war allenthalben von einem flachen Machwerke, »Die Schleichhändler« von Julie Florentine von Großmann (Berlin 1829) und Raupachs Lustspielchen »Die Schleichhändler« (in Berlin 1828 gegeben, 1830 bei Hoffmann und Campe erschienen) die Rede, worin die deutsche Scottbegeisterungihre gelinde Verulkung erfuhr, wobei der Satiriker nur übersah, daß sein historisches Dramenkonvolut ohne Scotts Impuls kaum möglich gewesen wäre.
Nur recht schüchtern und überraschend spät setzen die Nachrichten über Balzac in deutschen Zeitschriften ein. Von »Le dernier Chouan«, wie »Le Chouans« ursprünglich hießen, weiß das »Allgemeine Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur« (1830, IV. Band, Seite 304) nur das falsche Erscheinungsjahr 1830 (statt 1829) anzugeben und zu sagen, daß der Roman für die Geschichte »jener« Zeit wichtig sei. Sonst hat sich kein Kritiker mit den Büchern Balzacs beschäftigt, sogar die redseligen und chronistisch stets getreuen »Blätter für literarische Unterhaltung« nicht [Eine unbedeutende Notiz über das Werk (1830, Nr. 211), daß »die Schilderung und Zeichnung der Charaktere vortrefflich sei und eine Menge dramatischer Szenen vorkommen soll«, besagt nichts] , bis sie plötzlich im Jahre 1831 (Nr. 184), fast wie aus dem Stegreife heraus, ihre Leser mit der flüchtigen Bemerkung überraschten: »Auch in Deutschland ist Balzacs Name nicht mehr fremd. Wir setzen ihn ohne Bedenken den größten Meistern in der Novelle an die Seite.«
Was war geschehen? Wie waren die »Blätter für literarische Unterhaltung«, die vorher Balzacs Namen nur nebenbei genannt hatten, zu dieser Kenntnis und Erkenntnis gelangt? Daß ihre Mitarbeiter die Werke des Franzosen gelesen haben sollten, ohne darüber Rechenschaft abzulegen, kann man von dieser systematischen Rezensieranstalt nicht annehmen. (In der unten angeführten Bemerkungberiefen sich die »Blätter« auf die »Revue encyclopédique«.) Denn man war immer weit beflissener, ausländische Bücher zu besprechen als deutsche Werke, die man nur zu gerne totschwieg, wenn die Verfasser nicht in irgendwelchen Beziehungen zu den »Blättern« und ihren Schreibern standen [* Vgl. darüber die ausführlichen Mitteilungen in meinem Buche »Johann Peter Lyser« (München und Leipzig bei Georg Müller, 1911) Seite 229 ff] . In der Tat war auch kein Mitarbeiter dieser Leipziger literarischen Zeitung wirklich an Balzacs bis dahin publizierte Werke geraten, sondern sie waren auf anderen Wegen zu ihrem Urteile gelangt. –
Im Jahre 1830 erschienen in der Schlesingerschen Buch- und Musikalienhandlung zu Berlin »Lebensbilder von Balzac. Aus dem Französischen übersetzt vom Dr. Schiff«. Ein zweiler Teil unter demselben Titel folgte 1831. Dieses Werk war