Nur von einem, der ebenfalls den gebieterischen Einfluß des Engländers verspürte, muß noch gesprochen werden: Tieck verließ damals die Gefilde der »wundervollen Märchenwelt« und trat 1826 mit zwei Abschnitten seiner historischen Novelle »Der Aufruhr in den Cevennen« hervor. Auch an ihm war der epische Historizismus der Zeit nicht spurlos vorübergegangen, und noch 1840 huldigte er ihm in »Victoria Accorombona«. –
Es ist kein Grund vorhanden, über diese weitverzweigte Nachahmungssucht, die in germanischen und romanischen Ländern allenthalben üppig wucherte, bewegliche Klagen anzustimmen. Sie blühte ja zu allen Zeiten, und die Geschichte des Romans aller europäischen Völker lehrt es, daß immer wieder ein bedeutendes Werk der Ausgangspunkt für zahllose Nachfolger wurde. Man hat namentlich in Deutschland schlechtere Vorbilder in der Epik rastlos kopiert, als es Walter Scotts Dichtungen waren.
Aber das kann man auch heute noch bedauernd feststellen, daß das Lesepublikum sich zu allen Zeiten immer nur auf eine Richtung festschwor, daß immer nur einem literarischen Gott gehuldigt wurde und man andere Götter neben diesem nicht duldete. Ein Kreuzen von Richtungen und Gegenrichtungen war dem Sinn der Literaturfreunde nie gemäß und genehm, vielleicht nur deshalb, weil es unbequem ist, sich von dem Trott des Ein- und Angewohnten loszumachen. Für die Entwicklungsgeschichte der Literaturen hatte dieser Beharrungstrieb sicherlich seine Nachteile, für die einzelner Literaten aber, die vielbetretene Pfade meiden wollten, seine niederdrückendsten Mißlichkeiten. Die Geschichte des Romans der Franzosen lehrt dies am sinnfälligsten: denn einer der größten Dichter der Neuzeit verzettelte jahrelang seine besten Kräfte in den verzweifelten Versuchen, der didaktorischen literarischen Forderung des Tages auszuweichen und statt der romanhaften Geschichtsklitterung die Wirklichkeit in der Dichtung abzuspiegeln. Gewiß war auch Scott, weniger seine Nachahmer, Realist, indem er in nicht selten bewunderungswürdiger Objektivität Natur und Persönlichkeiten richtig sah und darstellte. Aber Stoffe, Sitten und Anschauungen in seinen Romanen waren doch nur gründlich durchschaut, niemals durchlebt. Die Erkenntnis war einem Größeren vorbehalten, daß die Zeit selbst mit ihrem überreichen Inhalte, namentlich aber die vom Beginn der Restauration an einsetzende überraschende Umwandlung aller ethischen und sozialen Anschauungen, bedeutendes Objekt der Dichtung sein könne.
Versuche, an Stelle der in der Poesie immer noch spielerisch hintändelnden Pseudorealistik dem Leben sans phrase Denkmale zu setzen, brachten dem kühnen Neuerer nur die schmerzlichsten Mißerfolge, selbst als er es versuchte, nachdem, das Pariser Publikum sich von dem Pseudonym Horace de Saint Aubin nicht zur Anerkennung hatte verlocken lassen, in der sehr geschickten und damals aktuellen Verkleidung als Lord R'hoone seine literarische Aufwartung zu machen.
Man errät schon, daß Honoré de Balzac der beherzte, aber unbeachtet gebliebene Sucher einer neuen Form des realistischen Romans war. Nach zwei Fronten mußte er einen schweren Kampf führen, um sich und seine Ideen durchzusetzen: er hatte die französische Romantik Hugos ebenso zu überwinden, wie die ihr schroff entgegengesetzte englische Scotts. Mit einem Schlage ließ sich ein in diesen beiden Extremen befangenes Publikum nicht für eine dritte literarische Richtung gewinnen, und der junge Balzac mußte zunächst auf ein Kompromiß mit seiner Gedankenwelt sinnen. Scott kam ihm insofern entgegen, als er an ihm die Kunst minutiöser Detailmalerei bewundern konnte, die oft unheimlich realistisch ist. So entschloß er sich denn, da pekuniäre und literarische Mißerfolge ihn fast aufgerieben hatten, dem vergötterten Leserliebling Scott bedenkenlos nachzufolgen und in dessen Manier historisch-romantische Bilder zu entwerfen. »Pour se délier la main« geschah es, wie Balzac spater behauptete; aber eigentlich wird dem jungen Feuerkopf nichts anderes vorgeschwebt haben, als sich kurzerhand das Publikum zu erobern und den Schuldenberg, der auf ihm lastete, abzuschütteln. Wollten die Leser nicht zu ihm kommen, so kam er zu ihnen; und waren die beiden erst beieinander, dann konnte man ja das aufmerksam gewordene Publikum rasch auf Pfade führen, die nicht seinen, sondern des Dichters Neigungen entsprachen.
»Die Chouans« waren der Roman, der Balzac 1829 auf Scotts Spuren der Gunst der Kritik und der Leser zuführte. Die Schilderungen und die Charakteristik verraten deutlich, wie fleißig der Franzose den Engländer studiert hatte. An psychologischem Scharfsinn übertrifft er ihn freilich, namentlich in der fast anatomischen Auseinanderlegung der weiblichen Charaktere zeigt sich schon in diesem Roman die Kunst Balzacs, die er später bis zur höchsten Meisterschaft emportrieb. –
Hatte er mit den scottisierenden »Schleichhändlern« das Publikum einmal für sich eingenommen, so durfte er es wagen, da sein Name nunmehr genügend Zugkraft ausübte, auch mit einem Produkte hervorzutreten, in dem er ganz er selbst war, in dem seine Gedanken und Einfälle, seine Psychoanalysen und -synthesen zum Ausdrucke kamen. In der »Physiologie der Ehe«, die den »Schleichhändlern « noch in demselben Jahre folgte, ist Balzac der »Alchimist des Gedankens«, als den ihn Sainte-Beuve glücklich charakterisiert hat. Schon aus diesem Frühwerke spricht der unerbittliche Gesellschaftskritiker zu dem Leser; die wichtigsten Erkenntnisse hat er seiner Zeit abgelauscht, die zwischen der Vertreibung und Wiedereinsetzung der Bourbonen die bedeutendsten sozialen Institutionen, vornehmlich die Ehe, tiefgreifenden Veränderungen unterworfen, die das Familienleben auf andere ethische Grundlagen gestellt und namentlich den Frauen zu einer selbständigeren Stellung verholfen hatte. Das alles verlangte Darstellung in der Dichtung, und Balzac ging an dieser Forderung der Zeit nicht achtlos vorüber. In der »Physiologie der Ehe« ist sein Realismus bereits zu unheimlicher Größe angewachsen; mag man den Autor einseitig nennen wegen der Art, wie er immer nur eine bestimmte Spezies des weiblichen Geschlechts vor Augen hat, ein tiefer Seher und Erkenner ist er in diesem Buche, und seiner Zeit hat er alle die oft erschütternden Reflexionen über eheliche Verderbnis sicher abgelauscht. Es ist eine tiefe Kluft zwischen den »Chouans«, deren Heldin eine moralisierende Courtisane ist, und der »Ehephysiologie«, deren Verfasser durchaus triebhafte und zynische Frauen vor Augen hat.
Aber das Publikum übersprang diese Kluft mit Leichtigkeit und folgte dem jungen Dichter nun. wohin er es führte. Noch mutete ihm Balzac, nachdem er sich in den Sarkasmen der »Physiologie der Ehe« das Herz ein wenig erleichtert hatte, nicht gleich zu, alles mit einem Schlage zu vergessen, was es bisher angebetet hatte. In den Erzählungen, die er unter dem Titel »Scènes de la vie privée« 1830 veröffentlichte und später in dem großen Rahmen seiner »Comédie humaine« unter dieselbe Rubrik zum Teile aufnahm, ist er noch nicht der schrankenlose Realist, wie er später etwa in »Eugenie Grandet« oder »Vater Goriot« zu erkennen ist. Zwar schwingt er auch schon in diesen Erzählungen mit Geschick das geistige Seziermesser des analysierenden Psychologen, der nichts anderes will, als das menschliche Herz in allen seinen Teilen bloßzulegen und dessen Schläge zu erklären. Aber diese ersten Geschichten – von den mit dem Hauptwerke unzusammenhängenden, posthum herausgegebenen »Oevres de Jeunesse« wird abgesehen – sind noch die wenigen lichten Punkte auf dem trostlos trüben Firmamente, das Balzac über seiner »Comédie humaine« ausspannte, und das ein Abbild der Trostlosigkeit war, die über dem Frankreich der Dreißigerjahre schwebte. Noch war Balzac kein unerbittlicher Sittenschilderer, dessen alleinige Absicht es ist, den Leser nur alle Schauer des Entsetzens fühlen zu lassen und ihn dann in diesem Zustande sich selbst preiszugeben. Ein paar versöhnliche Momente stecken gewiß noch in diesen Erzählungen, und Gestalten, die noch nicht halbe Götter und halbe Bestien sind, sondern denen menschliche Instinkte eigen sind, bevölkern sie.
Anders wurde Balzac, als diese Novellen ihm bewiesen, wie fest er bereits in der Gunst der Leser sitze. Nun konnte er seinen Meisterschuß abgeben und »Das Chagrinleder« erscheinen lassen (1831), das machtvoll die neue poetische Doktrin in Frankreich zur Geltung brachte. Hierin hat er seine dichterische Natur völlig hemmungslos hervorgekehrt und gezeigt, welche ethische Skepsis und welcher moralische Pessimismus die Grundelemente seines Wesens bilden.
»Das Chagrinleder« variiert das alte Märchenmotiv, daß unbesonnenes Wünschen zum Unheile ausschlagen müsse. Am bekanntesten ist die Fassung der Brüder Grimm in den »Drei Wünschen«; hier heben sich aber Leid und Freud, die man sich erbeten hat, am Schlusse auf, und als Resultat ergibt sich weder