Von zwei Arten von Menschen können wir ebenfalls sprechen, wenn es um die »Quelle« der Kreativität geht: solche, die soziale Gefäßbildung verstehen, und solche, bei denen das nicht der Fall ist. Der Begriff Gefäßbildung stammt aus der Moderatorensprache und bezeichnet die Bildung eines zuverlässigen schützenden Raumes. In Organisationen findet man oft Vorstandsvorsitzende und Führungskräfte, die solche Räume nicht schaffen. Sie glauben, Verhaltensveränderung sei einfach dadurch zu bewirken, dass sie Reden halten und der Organisation Instrumente verordnen. Instrumente sind natürlich wichtig. Aber sie werden auch oft überbewertet, weil sie so sichtbar sind. Doch was meistens unterbewertet wird, das ist der Stoff, den das Auge nicht sieht – beispielsweise die weniger sichtbaren Elemente eines zuverlässigen schützenden Raumes: Intention, Aufmerksamkeit und die subtilen Qualitäten des intensiven Zuhörens. Ein gutes Gefäß zu bilden heißt einen zuverlässigen schützenden Raum für einen generativen sozialen Prozess schaffen.
Ein Großteil des üblichen Sprachgebrauchs und viele der Werkzeuge für Veränderungsprozesse erweisen sich hier nur teilweise als nützlich. Nehmen wir beispielsweise die oft gebrauchte Beschreibung »Veränderung vorantreiben«. Hast Du schon einmal deine Familie gefragt, was sie davon hält, wenn Du deren Beziehungsnetz dazu »antreiben« würden, sich zu verändern? Viel Glück damit. Die Realität, einen tiefgreifenden Wandel zu begleiten, hat wenig damit zu tun, dass eine Person die andere zur Veränderung »antreibt«. Das ist die falsche Metapher, der falsche Ansatz. Hilfreicher ist meiner Ansicht nach die Landwirtschaftsmetapher.
Damit komme ich zu meiner dritten Erkenntnis und auch zurück zu meinen Wurzeln.
Soziale Felder
Ich wuchs auf einem 350 Jahre alten Bauernhof in der Nähe von Hamburg auf. Vor 60 Jahren beschlossen meine Eltern, die Produktionsweisen der konventionellen industriellen Landwirtschaft (Einsatz von Schädlingsbekämpfungs- und Unkrautvernichtungsmitteln sowie von Kunstdünger) aufzugeben und stattdessen nach biologisch-dynamischen Produktionsweisen zu arbeiten (Fokussierung darauf, das symbiotische Ökosystem des Hof-Organismus zu kultivieren). Jeden Sonntag nahmen meine Eltern mich, meine Schwester und meine beiden Brüder auf einen Feldgang über die Äcker unseres Hofs mit. Ab und zu machte mein Vater halt, hob einen Klumpen Erde aus der Furche, damit wir die unterschiedlichen Arten und Strukturen des Bodens erkennen lernten. Die Qualität des Bodens, erklärte er, hänge von vielen Millionen von Organismen ab, die in jedem Kubikzentimeter Erde leben und deren Arbeit notwendig sei, damit der Boden atmen und sich als lebendiger Organismus entwickeln könne.
Genauso wie bei jenen Feldgängen in meiner Jugend wird dieses Buch dich auf eine ähnliche Reise mitnehmen, auf der wir ab und zu innehalten und eine Fallgeschichte oder eine Erfahrung untersuchen, die uns die tieferliegenden Strukturen des sozialen Feldes verstehen helfen. Und genauso, wie der Biobauer komplett von der lebenden Qualität des Bodens abhängt, sind Sozialpioniere von der lebenden Qualität des sozialen Feldes abhängig. Ein soziales Feld ist nach meiner Definition Ausdruck der Qualität von Beziehungen, die zu Mustern des Denkens, Kommunizierens und Organisierens führen, die ihrerseits praktische Resultate hervorbringen.
Und genauso wenig, wie der Landwirt eine Pflanze zum schnelleren Wachstum »antreiben« kann, kann man in einer Organisation oder einer Gruppe praktische Resultate durch Verordnung erzwingen. Stattdessen muss die Aufmerksamkeit auf die Verbesserung der Bodenqualität gerichtet werden. Was ist mit der Qualität des sozialen Bodens gemeint? Sie bezieht sich auf die Qualität von Beziehungen zwischen Individuen, Teams und Institutionen, die kollektives Verhalten und praktische Resultate hervorbringen.
Im Rückblick erkenne ich, dass mein Weg in den letzten 40 Jahren eine Reise war, auf der ich soziale Felder erkundet, untersucht und »beackert« habe. Meine Eltern beackerten die Felder des Bauernhofs. Meine Kollegen und ich beackern soziale Felder. Und wenn du zufällig Manager, Führungskraft, Erzieher, Unternehmer, Künstler, Therapeut, Elternteil oder Menschenrechtler bist, ist das wahrscheinlich auch deine Rolle.
Die tieferen Erfahrungen und Ebenen des sozialen Feldes, wie sie hier beschrieben werden, sind jedem vertraut, der sich für soziale Bewegungen, Unternehmensgründungen oder Veränderungsinitiativen einsetzt. Ich selbst engagierte mich zuerst in den Umwelt-, Öko-, Antiatomkraft- und Friedensbewegungen der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre und gründete später mit einem Kreis von Weggefährten und Kolleginnen das Presencing Institute, ein weltweit agierendes Sozialunternehmen. Später im Buch werde ich auf einige dieser Erfahrungen eingehen. An dieser Stelle möchte ich deine Aufmerksamkeit nur auf die Tatsache lenken, dass keine dieser Erfahrungen einzigartig oder außergewöhnlich ist.
Im Gegenteil: Sie sind eigentlich recht gewöhnlich. Viele Menschen machen sie. Und ja, sie lassen einen wirklich »über den Tellerrand hinausschauen« – genauso, wie das Erleben des Brandes mich für einen oder zwei Augenblicke von meinem physischen Körper entfernte. Dabei erleben viele Menschen solche Dinge viel öfter, als uns bewusst ist.
2Theorie U: Form folgt Bewusstsein
Bei Theorie U geht es um die zentrale Frage, wie Individuen, Gruppen und Organisationen ihr höchstes Zukunftspotenzial erspüren und verwirklichen können.
Der berühmte Satz des Philosophen René Descartes ist dir bestimmt geläufig: »Ich denke, also bin ich.« Das ist allerdings nicht der Ausgangspunkt von Theorie U. Aus dem Blickwinkel von Theorie U würden wir sagen: Ich bin achtsam (auf diese Weise), also ergibt sich das Folgende (in jener Weise). Ein Beispiel: Die Qualität meines Zuhörens gestaltet mit, wie sich ein Gespräch entfaltet. Allgemeiner gesagt: Die Qualität von Ergebnissen, die ein soziales System erzielt, hängt von dem Bewusstsein ab, auf dessen Basis die Menschen in diesem System handeln. Das heißt: Form folgt Bewusstsein.
Das System dazu bringen, sich selbst zu sehen
In den vergangenen Jahrzehnten habe ich sehr oft erlebt, wie Gruppen oder Systeme – manchmal große, manchmal kleine – eine subtile Bewusstseinsveränderung in der Art durchmachen, wie die Mitglieder dieser Gruppen ihr System wahrnehmen und sehen.
In Abbildung 3 wird die hier relevante mentale Veränderung beschrieben: Das System wird nicht mehr als etwas »da draußen Befindliches« (Abb. 3a) gesehen, sondern es wird aus einer Perspektive wahrgenommen, die das eigene Selbst einschließt (Abb. 3b).
Wenn diese Umwendung des Beobachtungsstrahls zurück zu den Quellen der eigenen Wirksamkeit auf individueller Ebene geschieht, sprechen wir von Achtsamkeit. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, sich auf das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks einzulassen, während man der eigenen Aufmerksamkeit gegenüber aufmerksam wird.
Wenn diese Umwendung der Aufmerksamkeit in einer Gruppe geschieht, sprechen wir von Dialog. Dialog heißt nicht, dass Menschen miteinander reden. Dialog ist die Fähigkeit eines Systems, sich selbst zu sehen, seine eigenen Muster zu sehen, seine eigenen Annahmen in den Lichtkegel der Aufmerksamkeit zu rücken.
Diese Umwendung des individuellen und kollektiven Sehens macht natürlich auch den