Abb. 4: Der U-Prozess – Drei Bewegungen
Das tiefere Gelände kartieren
Ein paar Monate später, im Januar 2000, hatte ich die Gelegenheit, mit Francisco Varela (1946–2001), dem bedeutenden Vertreter der Kognitionswissenschaft, zusammenzutreffen. Varela sprach über den blinden Fleck in der Kognitionswissenschaft und Hirnforschung. »Das Problem ist nicht, dass wir zu wenig über das Gehirn oder die Biologie wissen«, sagte er. »Das Problem liegt darin, dass wir nicht genug über Erfahrung wissen […] Wir haben im Westen einen blinden Fleck für diese Art des methodischen Ansatzes. Alle meinen, dass wir über die Erfahrung genau Bescheid wissen. Ich behaupte, dass dies überhaupt nicht der Fall ist.«
Francisco Varela fragte: »Kann dieser Kernprozess der Bewusstwerdung als Fähigkeit kultiviert werden?« Dieser Kernprozess setzt sich laut Varela zusammen aus »drei Gesten der Bewusstwerdung: Innehalten [suspension], Umlenken [redirection] und Loslassen/Kommenlassen [letting-go/letting-come]«.
Gemeinsam bewegten wir uns durch die drei Gesten. Varela erklärte: »Mit Innehalten meine ich das Beenden von Gewohnheitsmustern. In der buddhistischen Meditation platzierst du deinen Hintern auf ein Kissen und bleibst auf einer Ebene oberhalb deiner gewöhnlichen Beschäftigung. Du schaust aus einer eher überblickenden Perspektive.« Wir diskutierten weiter und überlegten, wie viele Menschen, die meditieren, behaupten, dass nichts passiere. Warum? »Sinn und Zweck der ganzen Sache ist natürlich, dass du es erträgst, nach der Suspensionsphase, dass nichts passiert«, sagte er. »Innehalten ist eine eigenartige Sache. Dabeibleiben, dranbleiben ist wirklich der entscheidende Punkt, um den es geht.«
Dann erläuterte er die zweite und dritte Geste. Beim Umlenken geht es darum, die Aufmerksamkeit von einem »Äußeren« zu einem »Inneren« umzulenken, sodass die Aufmerksamkeit hin zum Ursprungsort der inneren Prozesse geleitet wird und nicht zum Objekt hin. Das Loslassen sollte mit Feingefühl passieren, betonte Varela.
Als ich Francisco Varela zuhörte, wusste ich, dass ich diese drei Gesten früher schon erlebt hatte. Wie wahrscheinlich viele von uns hatte ich sie oft in Teamprozessen mit Gruppen beobachtet. Als ich Varelas Büro verließ, sah ich unmittelbar vor meinen Augen, wie sich diese Gesten auf dem U abbilden lassen. In Abbildung 5 sind sie auf der linken Seite des U als Tore zu den tieferen Schichten des Bewusstseins dargestellt; auf der rechten Seite des U sind sie als Pendants auf dem Weg nach oben gespiegelt.
Das U vereint zwei unterschiedliche Zeitsichten in sich: Das iterative Zusammenspiel der linken und rechten Seite des U ist eine Verbeugung zur östlichen zyklischen Sicht auf Entwicklung; der Pfeil ist eine Integration der westlichen linearen Sicht von Zeit, die, wie die irreversiblen Risiken der ökologischen Krise zeigen, gleichermaßen relevant ist. Abbildung 5 verbindet diese Sichtweisen miteinander und zeigt den Kernprozess von Theorie U sowie die sieben Arten des Achtsamwerdens und In-die Welt-Bringens. Wer diesen Prozess durchläuft, erlebt die folgenden feinen Umwendungen des kognitiven sozialen Feldes:
•Herunterladen: Am Anfang gibt es einen Funken des Bewusstwerdens, der uns über das Herunterladen – über die Muster der Vergangenheit – hinaushebt. Solange wir auf Basis des Abspulens handeln, ist die Welt aufgrund unserer alten Denkgewohnheiten und früheren Erfahrungen eingefroren; nichts Neues dringt in unser Denken ein. Immer wieder die alte Leier.
•Sehen: Sobald wir unser gewohnheitsmäßiges Urteil zurückhalten, erwacht unser Sehen mit neuen Augen. Wir bemerken das Neue und sehen die Welt als eine Konstellation von Dingen, die uns, den beobachtenden Personen, äußerlich sind.
•Erspüren: Sobald wir unsere Aufmerksamkeit von Gegenständen auf deren Quellprozess umwenden, erweitert und vertieft sich unsere Wahrnehmung. Diese Umwendung beugt den Beobachtungsstrahl zurück auf den Beobachtenden. Die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem beginnt sich zu öffnen.
•Presencing (durch Gegenwärtigung erspüren): Wenn wir in einen Raum der inneren und äußeren Stille eintreten, lassen wir das Alte los und verbinden uns mit der Sphäre des zukünftigen Potenzials. Die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem löst sich vollständig auf und eröffnet einen Raum, in dem die Zukunft ankünftig werden kann.
•Verdichten: Wenn wir die Vision und Intention zu einem bildhaften imaginativen Schauen verdichten und kommen lassen, beginnt sich das Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem umzukehren. Die Gegenwärtigung tritt aus dem Feld des Werdenden (und nicht aus der beobachtenden Person) hervor.
•Prototypen erstellen: Wenn wir Prototypen inszenieren, erkunden wir die Zukunft im Tun. Das Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem stülpt sich weiter um. Eine gelungene Inszenierung nimmt durch einen fortwährenden »Dialog mit dem Universum« Gestalt an (und ist von daher nicht das Ergebnis eines einsamen Genius).
•Verwirklichen: Wenn wir das Neue verkörpern, ihm eine neue Form geben, indem wir entsprechende Praktiken und Infrastrukturen entwickeln, ist die Umstülpung des Verhältnisses zwischen Beobachter und Beobachtetem komplettiert. Die institutionelle Verkörperung gestaltet sich von den Gegebenheiten und funktionalen Erfordernissen des größeren Ökosystems (und nicht mehr von den partikularen Erfordernissen einzelner institutioneller Egos) aus.
Abb. 5: Theorie U: Sieben Arten des Aufmerksamseins und In-die Welt-Bringens
Kurz gesagt: Zu den ersten Schlüsselideen von Theorie U gehören die drei Bewegungen – beobachten, sich zu den Quellen begeben, das Neue in die Welt bringen –, wie sie nach unserem Gespräch mit Brian Arthur entwickelt wurden, und das feingliedrigere U mit den sieben Punkten, das aus meinem Gespräch mit Francisco Varela hervorging. Bei der dritten Erkenntnis und Schlüsselidee geht es um die Instrumente des inneren Wissens.
Drei Instrumente des inneren Wissens
Im Kern dreht sich Theorie U um die innere Dimension des Intervenierenden, von dem Bill O’Brien gesprochen hatte. Heute würde ich dieses innere Territorium in der Form von drei Instrumenten beschreiben: Öffnung des Denkens, Öffnung des Herzens und Öffnung des Willens (s. Abb. 5).
Ein offenes Denken zu haben ist die Fähigkeit, alte Gewohnheiten des Urteilens aufzuheben – um mit neuen Augen sehen zu können. Ein offenes Herz zu haben ist die Fähigkeit, eine Situation mit den Augen anderer Menschen nachzuempfinden und zu betrachten. Einen offenen (»sanften«) Willen zu haben ist die Fähigkeit, das Alte »loszulassen« und das Neue »kommen zu lassen«.
Das Beispiel des Zuhörens
Zuhören ist wahrscheinlich die am meisten unterschätzte Grundfähigkeit. Die meisten Fälle von gravierendem Führungsversagen – für das es vielfältige Beispiele gibt – gehen auf Führungskräfte zurück, die oft nicht in der Lage sind, sich mit der sie umgebenden »VUCA-Welt« (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) zu verbinden; das heißt mit einer Welt, die geprägt ist von Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit.
Doch Zuhörenkönnen ist nicht nur in der Führungsarbeit wichtig. Wenn man kein guter Zuhörer ist, kann man nirgendwo