»Lass sie nur fahren, so geht es einem gerade mit ihren Brüdern«, sagte Bruno, »mit denen will ich auch keine Freundschaft, gar nichts mehr will ich von ihnen.«
»Lieber ihnen noch etwas geben, so wie heut«, bemerkte Kurt.
»Ich begreife Mea wohl«, sagte die Mutter, »sie hatte sich gleich, wie wir herkamen, in Freundschaft an Elvira angeschlossen, sie hat mehr das Bedürfnis nach Freundschaft als ihr.«
»Mutter, ich habe hier sechs oder acht Freunde, das ist doch nicht wenig«, schaltete Kurt ein.
»Sie sind auch danach«, sagte Bruno schnell.
»So muss es Mea weh tun«, fuhr die Mutter fort, »dass Elvira so wenig geeignet ist, eine Freundin für sie zu sein. Dass du ihr sagst, was du für unrecht hältst, ist ganz recht, Mea, das brauchst du nicht zu verbergen. Zeigst du ihr daneben deine Anhänglichkeit und bist du nicht gleich empfindlich bei jeder kleinen Verschiedenheit eurer Ansichten, so kann nach und nach eure Freundschaft doch vielleicht noch besser werden.«
Lippo und Mäzli fühlten, dass die Zeit zum allgemeinen Spiel gekommen war, und drängten sich nun immer näher an die Mutter heran, um ihr begreiflich zu machen, dass sie nun einmal auch wieder etwas von ihr wollten. Sie ordnete nun auch das Spiel an, und bald waren alle im grössten Eifer dabei.
Aber leider geschah auch heute, was fast jeden Tag vorkam, wenn man eben im besten Zug war und alles andere vergessen hatte, so fing plötzlich die alte Uhr an der Wand überlaut zu schlagen an und schlug unerbittlich fort, bis keine Hoffnung mehr übrig blieb. Es war die Stunde, die allem Spiel ein Ende setzte und den Gesang des Abendliedes und darauf das Abtreten der Kleinen forderte. So wurde denn trotz aller Einwände das angefangene Spiel wohl zu Ende gebracht, aber kein neues mehr begonnen, und während nun die älteren Kinder die Spielsachen zusammenräumten, ging die Mutter zum Klavier, um das Lied aufzuschlagen, das gesungen werden sollte.
Mäzli war ihr schnell nachgelaufen: »Darf ich auch einmal das Lied aussuchen, das man singen soll, Mama?« fragte es angelegentlich.
»Gewiss, wenn dir ein Lied besonders lieb ist, so darfst du es nennen«, erlaubte die Mutter.
Mäzli ergriff sehr geschäftig das Gesangbuch.
»Aber Mäzli, du kannst ja nicht lesen«, sagte die Mutter, »was soll dir das Buch helfen? Sage mir, wie dein Lied anfängt, oder was du daraus weisst.«
»Ich will es schon gleich finden«, behauptete Mäzli, »lass mich nur ein wenig suchen, Mama.« Und nun suchte es und suchte mit einem Eifer, als gelte es, ein längst vermisstes Gut zu finden.
»Hier, hier!« rief es bald und hielt das gefundene Lied hocherfreut der Mutter hin.
Sie nahm das Buch und las:
»Geduld ist euch vonnöten,
Wenn Sorge, Gram und Schmerz -
Mäzli, könntest du mir sagen, warum du dieses Lied so besonders gern singen willst?« unterbrach sie sich hier.
Kurt war auch herangekommen und schaute der Mutter über die Schulter ins Buch hinein. Jetzt lachte er laut auf: »Du schlaues Mäzli du, gelt, du hast das längste Lied gewählt, das du entdecken konntest. Du hast gedacht, Lippo werde dann schon dafür sorgen, dass die allerletzte Silbe ausgesungen werde, bevor man ins Bett muss.«
»Ja, und du gehst noch viel ungerner ins Bett«, sagte Mäzli ein wenig rachsüchtig; denn dass sein schöner Plan so schnell durchschaut war, hatte seinen Zorn erweckt, »und wenn du gehen musst, so seufzest du überlaut und rufst wie gestern: ‘Oh, wie schade! Oh, wie schade!’ und meinst, es sei ein Unglück.«
»Ganz richtig, pfiffiges Mäzli!« lachte Kurt.
»Kommt, kommt, Kinder, nun singen wir, und keines ereifert sich mehr«, mahnte die Mutter. »Wir wollen singen: ‘Der Mond ist aufgegangen’, da kannst du alle Verse auswendig und kannst mitsingen, Mäzli, von Anfang bis zu Ende.«
Nun wurde das Lied angestimmt und im Frieden fertig gesungen.
Als später die Mutter von ihrer Begleitung zu den Schlafstätten der beiden Jüngsten zurückkehrte, sassen die drei Älteren erwartungsvoll um den Tisch herum. Kurt hatte verkündet, dass heute die Geschichte der Familie von Wallerstätten erzählt werde. Man hatte vorsorglich den Strickkorb vor den Sessel der Mutter auf den Tisch gestellt; denn ohne das Strickzeug in der Hand würde die Mutter nicht erzählen, das wussten sie wohl.
Die Mutter lächelte, als sie herzutrat: »Da ist alles gut vorbereitet«, sagte sie, »so kann ich denn gleich beginnen.«
»Ja, und recht von vorn, von dort, wo es mit dem Geist anfing«, sagte Kurt.
Die Mutter schaute ihn fragend an: »Ich habe immer noch das Gefühl, Kurt, du meinst doch irgendetwas von einem solchen Geist in Erfahrung bringen zu können, was ich dir auch dagegen sage. Davon will ich erzählen, woran das Gerede über einen Geist von Wildenstein sich geknüpft hat. Das Auftauchen dieser Gerüchte geht in eine ferne Zeit zurück.
Droben auf dem Schloss hängt ein Bild«, begann die Mutter nun zu erzählen, »das ich oft als Kind angeschaut habe und das mir immer einen tiefen Eindruck gemacht hat: es stellt einen Pilger vor, der an seinem Stabe fortwandert, rastlos fort, durch das weite Land, obschon er alt und verwittert aussieht und ihm eisgraue Haare das Haupt umflattern. Das soll das Bild des Ahnherrn derer von Wallerstätten sein. Der Name soll in früheren Zeiten etwas anders gelautet haben.
Dieser Ahnherr nun soll ein sehr wilder und jähzorniger Herr gewesen sein und soll in seinem Jähzorn viele Untaten begangen haben, worüber seine Frau sich nicht trösten konnte und tagelang in der Schlosskapelle auf den Knien lag, um für ihn zu beten. Da starb sie eines plötzlichen Todes. Das erschütterte den Herrn so sehr, dass er nicht mehr auf dem Schlosse weilen konnte. Er meinte, als büssender Pilger für seine unruhige Seele Ruhe zu finden. Da nahm er einen Pilger in sein Wappen auf und änderte seinen Namen in Wallerstätten um. Dann verliess er sein Schloss und seine Söhne und kehrte niemals wieder.
In späteren Jahren lebten zwei Brüder auf dem Schlosse, Nachkommen dieses Ahnherrn, und waren beide sehr beliebt und hoch geachtet. Sie taten viel für das Land, dass es gut angebaut werden konnte und die Bauern zu schönen Gütern kamen. Aber alle beide hatten den schrecklichen Jähzorn ihres Ahnherrn geerbt, wie es denn unter seinen Nachkommen immer wieder so schreckliche jähzornige Glieder gegeben haben soll. Was zwischen den Brüdern vorgefallen war, wusste niemand; aber eines Morgens wurde der eine von ihnen tot auf dem Boden des grossen Fechtsaales gefunden. Nur der Schlosswart wusste zu berichten, die Herren hätten einen Streit mit den Waffen auszufechten gehabt. Gleich darauf verschwand der andere Bruder, und nach wenigen Tagen wurde auch er tot auf das Schloss zurückgebracht. Er war hoch oben im Gebirge, wohin er gestiegen war, über eine Felswand gestürzt und tot dort gefunden worden. Diese Vorfälle verbreiteten einen grossen Schrecken über die ganze Gegend.
Da war es nun, dass zuerst das Gerücht auftauchte, oben auf Wildenstein gehe ein Geist umher; es müsse der unruhige Geist des Schlossherrn sein, der den Bruder beim Fechten getroffen hatte. Das war viele Jahre, bevor mein Vater, euer Grossvater hier in Nollagrund als Pfarrer einzog. Damals hatte sich das Gerücht ziemlich verloren; wir Kinder hörten nichts davon, nur zuweilen verstanden wir, dass der Vater sich sehr gegen jemand ereiferte, der ihm von diesem Gerede gesprochen hatte. Euer Grossvater war der nahe Freund der Familie des Herrn von Wallerstätten auf dem Schlosse, den man ‘Herr Baron’ zu nennen hatte. Seiner erinnere ich mich nur noch aus einzelnen Augenblicken, da er mir einen besonderen Eindruck gemacht hatte. So sehe ich den hochgewachsenen Herrn mit raschem Schritt durch den Schlosshof gehen oder das unruhige Pferd besteigen, das sich jeden Augenblick bäumen wollte, was mir besonders frisch in der Erinnerung geblieben ist. Bevor ich fünf Jahre alt war, starb der Herr Baron. Ich hörte oft meinen Vater zur Mutter sagen, es sei ein Unglück für die zwei Söhne, dass sie keinen Vater mehr hätten, und sie taten mir so leid deswegen,