»Sie werden wohl die Knippelsuppe von gestern abend meinen, Apollonie?« fiel Kurt hier lebhaft ein; denn eben hatte ihm Loneli gesagt, es sei nicht gut gegangen, als es gestern mit den vom Fall beschmutzten Kleidern und der leeren Milchflasche heimgekommen sei, und nun war er noch voller Grimm darüber und hatte die Andeutung der Apollonie gleich verstanden. »So will ich Ihnen nur sagen, dass das Loneli nicht schuld daran war, kein bisschen, die Knippelbuben meinen, es sei lustig, den Leuten ein Bein zu stellen und sie umfallen zu sehen.«
»Das Kind wird wohl auch nicht gewesen sein, wie es sollte, sonst hätten ihm doch des Herrn Amtsrichters Söhne nichts zuleide getan.«
»Jetzt will ich gleich den Bruno zurückholen, der kann Ihnen beweisen, dass Loneli nichts gemacht hat, er war dabei«, sagte Kurt eifrig und wollte gleich dem Bruder nachlaufen, der nicht bei den anderen geblieben, sondern voraus der Höhe zugegangen war. Aber die Mutter hielt ihn zurück. Sie wünschte nicht, dass durch die Erinnerung an den Vorgang und die Entdeckung, dass Loneli noch als schuldig behandelt worden war, bei Bruno noch einer seiner Zornesausbrüche hervorgerufen werde. Der Apollonie sagte sie aber klar, wie sich die Sache verhalten habe, der Bruno beigewohnt, und die er gleich nachher der Mutter erzählt hatte.
Lonelis blaue Augen funkelten vor Freude, als der Vorgang genau so geschildert wurde, wie er sich zugetragen hatte, und dazu von der Frau Pfarrer, deren Worte der Grossmutter mehr als alle anderen galten.
»Jetzt können Sie sehen, dass das Loneli gar nicht schuld an der Sache war!« rief Kurt, als die Mutter geendet hatte.
»Ja, ich sehe es und bin ja so froh, dass es so ist«, sagte die Apollonie; »aber wie könnte man auch glauben, dass solche Söhne, die doch eine gute Erziehung haben, ohne Not andere schädigen würden! Das hätte denn doch der junge Falk nicht getan. Er lief mir nur darum ins Gemüse hinein, weil ihn die jungen Herren vom Schlosse von beiden Seiten jagten.«
Onkel Phipp lachte: »Frau Apollonie ist doch noch gerecht. Wenn sie auch den jungen Falk tüchtig ausschimpfte, so wusste sie doch, dass er ihr nicht aus Bosheit, sondern nur aus Notwehr durchs Gemüse stampfte. Nun meine ich aber, es wäre Zeit weiterzugehen.«
Damit schüttelte er seiner alten Bekanntschaft kräftig die Hand und zog mit seinen zwei Kleinen, die ihm die ganze Zeit nicht von der Seite gewichen waren, wieder rüstig weiter.
Schloss Wildenstein stand vom Abendlicht umflossen. Von der Höhe, die nun erreicht war, konnte man frei hinüberschauen. Die Vorderseite des Schlosses mit dem freien Platz davor schimmerte im Lichte der Abendsonnenstrahlen. Leblose Stille herrschte rings um das graue Gebäude. Die alten Föhren unter dem Eckturm auf der Waldseite hingen ihre langen Äste bis tief auf den Boden, die hatte seit Jahren keine Menschenhand berührt. Wo der blühende Garten gelegen, war der Boden weithin mit Sträuchern und Gebüsch bedeckt.
Mutter und Onkel hatten sich auf einen Baumstamm, der am Boden lag, hingesetzt und schauten schweigend nach dem Schloss hinüber, während die Kinder an dem sonnigen Abhang nach Erdbeeren ausschauten.
»Da drüben sieht’s schauerlich einsam und verödet aus«, sagte Onkel Phipp nach einiger Zeit, »wir wollen zurückkehren. Ist erst die Sonne fort, so wird alles noch düsterer aussehen.«
»Fällt dir nicht etwa auf, Phipp«, sagte seine Schwester, von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen. »Siehst du, dass alle Fensterladen fest verschlossen sind, nur die Balkonfenster am Turme nicht; du weisst, wer jene Zimmer bewohnte?«
»Freilich weiss ich’s, dort hauste der rasende Bruno«, erwiderte der Bruder.
»Wenn er wiederkäme, Phipp, weil nur allein seine Zimmer geordnet werden?«
»Wo denkst du hin, der kommt nie wieder!« rief Onkel Phipp aus, »du weisst ja auch, dass wir schon vor langer Zeit vernommen haben, er sei ein völlig gebrochener Mann und liege auf den Tod krank in Malaga. Es war doch Herr Tillmann, der Spanien bereiste, der es hörte; der muss es ja wissen. Er ist gewiss schon lange tot und zur Ruhe gekommen, der ruhelose Bruno, was willst du ihn hier suchen?«
»Dann müsste man doch hier etwas davon wissen, da wäre doch ein neuer Besitzer vom Schloss hier erschienen«, meinte Frau Maxa. »Es sind ja auch noch zwei junge Glieder derer von Wallerstätten am Leben; du weisst es ja, die Kinder von Salo und Leonore. Wo nur diese Kinder hingekommen sind? Es würde ihnen ja alles nach dem Tode des Onkels gehören.«
»Die sind schon lange enterbt!« rief der Bruder aus; »das kannst du dir denken. Wo sie sind, weiss ich nicht; ich habe freilich einen Gedanken, den will ich dir heut abend mitteilen, wenn wir ruhig zusammen sind und du nicht, wie jetzt, alle Augenblicke in Zerstreutheit verfällst und sorgenvolle Blicke über den völlig soliden Rasenboden hinwirfst, als wäre er ein gefährlicher Wasserteich, wo deine Küchlein mit einem Male hineinstürzen und ihr Leben in Gefahr bringen könnten.«
Die Kinder hatten sich auf der Höhe nach allen Seiten hin zerstreut. Bruno war weit abseits gerannt und sass dort am Abhang, in ein kleines Buch vertieft, das er in die Tasche gesteckt hatte. Mea hatte die schönsten blauen Vergissmeinnicht entdeckt, die sie je gesehen; in grossen Büschen standen sie an dem hellen Bergbach. Die musste sie haben, alle, alle. Ausser sich vor Entzücken, stürzte sie von Stelle zu Stelle, überallhin, wo die blauen Blümlein leuchteten.
Kurt hatte sich auf einen Baum geschwungen und schaute vom höchsten Ast, den er erreichen konnte, forschend zum Schloss hinüber, als hätte er dort drüben noch etwas Besonderes zu entdecken. Das Mäzli hatte Erdbeeren entdeckt und Lippo mit fortgezogen, damit er sie pflücken helfe, eigentlich, damit er sie pflücke und es unterdessen wieder neue auffinden könne. So hatte die Mutter immer wieder dahin und dorthin zu schauen, ob Kurt auch nicht zu waghalsige Klettereien unternehme, ob das Mäzli nicht zu weit weglaufe, ob Lippo nicht seine Erdbeeren zur Verwahrung in die Tasche stecke, wie er auch schon getan und dadurch eine grosse Verheerung an seinen Sonntagshöschen angerichtet hatte.
»Du machst dir überhaupt vielzuviel Mühe und Sorgen mit den Kindern«, fuhr Onkel Phipp fort; »man lässt die Kinder einfach wachsen und sagt ihnen, ‘wenn ihr nicht recht tut, so sperrt man euch ein’.«
»Ja, das wäre freilich am einfachsten«, sagte die Schwester, »es ist nur schade, dass du nicht ein Schärchen zu erziehen hast, Phipp, alle so lebendig und jedes vom anderen so verschieden wie die meinen, so dass ich immer das eine zu demselben Ding anzutreiben habe, wovon ich das andere zurückhalten muss. Die Sorgen kommen mir, ohne dass ich sie suche. Heute ist eine neue grosse Sorge mir aufs Herz gefallen, die auch du nicht nur so beseitigen kannst.«
Nun erzählte Frau Maxa ihrem Bruder, was die Frau Amtsrichter ihr heute mitgeteilt hatte, und wie sie nun voraussähe, dass der Unterricht für Bruno auf den Herbst zu Ende gehe, wie sie aber nicht daran denken dürfe, den Jungen mit den zwei Söhnen Knippel fortziehen und gar zusammen wohnen zu lassen. Nicht ein einziges Mal noch seien die drei zusammengekommen, ohne dass das Beisammensein mit irgendeiner Bosheit von der einen und einem schrecklichen Zornesausbruch von der anderen Seite geendet habe.
»Soll das nun nicht eine grosse Sorge für mich sein, die drei in der Ferne unter einem Dach zu wissen? Musst du das nicht selbst denken, Phipp?« schloss Frau Maxa.
»Ja, siehst du, Maxa, das ist nun eine alte Erfahrung«, antwortete der Bruder ernsthaft, »zu allen Zeiten hat es Buben gegeben, die sich durchgeprügelt, und nachher wieder Frieden gemacht haben.«
»Nein, Phipp, das ist kein Trost«, gab die Schwester zurück, »das ist auch gar nicht Brunos Art. Er schlägt sich nicht herum; aber was er in seinem Zorn und seiner Empörung über eine Ungerechtigkeit oder heimliche Bosheit anzustellen imstande wäre, das steht mit Schrecken vor mir.«
»Das hat ihm sein Namenspatron eingebunden, den niemand für alle seine Zornestaten zu entschuldigen und rein zu waschen wusste wie du, Maxa, in deiner unverwüstlichen Hochschätzung.«
Weiter konnte Onkel Phipp nicht sprechen. Die Kinder kamen alle hintereinander herangerannt. Jedes der Kleinen wollte dem Onkel und der Mutter die schönsten seiner Erdbeeren