»Das ist eigentlich nichts so Erschreckliches, Apollonie«, sagte die Frau Pfarrer lächelnd. »Sollte das Kind nicht vielleicht zuerst von Ihnen selbst das Land Spanien nennen gehört haben, und in einer Weise, die seine Einbildungskraft schon in Tätigkeit gesetzt hat? Dann wird es ja in der Schule auch von dem Land gehört haben, und sein lebhafter Wunsch dahin zu kommen, ist ja nur ein Zeichen, dass es achtgibt und gut aufpasst. Die kleine Freude, sich auszudenken, wie es einmal dahin kommen könnte, dürfen Sie ihm gewiss lassen, die ist nicht so gefährlich. Sonst bin ich ja mit Ihnen ganz einverstanden, dass die Kinder in Zucht und Ordnung gehalten werden müssen, sonst kommen sie auf ganz verkehrte Wege, und niemand hat solche Kinder gern. Aber Loneli gehört gar nicht zu diesen; wir haben alle das Kind recht lieb. Kein zweites ist in Nollagrund, das ich lieber bei meinen Kindern sehe.«
Das ehrliche Gesicht der Apollonie erglänzte aufs neue. »Das ist mein grösster Trost, und gewiss, ich brauche ihn«, versicherte sie. »Wie mancher sagt mir, dass so eine Alte nicht mehr tüchtig ist, ein junges Kind zu erziehen und zu regieren, und wenn sie einmal mit Recht sagen könnten: ‘Die alte Apollonie hat ihr Tochterkind verzogen und verdorben’, ich könnte es nicht ertragen, die Schande brächte mich um. Aber solange Sie das Kind gern bei den Ihrigen sehen, steht es noch nicht so schlimm, das weiss ich. Jetzt dank ich zum schönsten; das gibt ja ein ganzes Beet voll«, fuhr sie fort, indem sie das grosse Büschel der Blumenschösslinge in Empfang nahm, die Frau Pfarrer unterdessen ausgebrochen hatte, »und wenn ich irgend etwas helfen kann, so rufen Sie nur; Sie wissen, für Sie bin ich immer daheim, Frau Pfarrer!«
Jetzt verabschiedete sich Apollonie mit nochmaligen Danksagungen und ihren grünen Strauss vor sich hertragend. Um die zarten Zweiglein ja nicht zu beschädigen, eilte sie durch den Garten dem Schlossberg zu. Sinnend schaute ihr die Frau Pfarrer nach. Apollonie hing mit ihren frühesten Kindereindrücken, mit den Erlebnissen ihrer Jugendzeit, mit allen den Menschen, die sie geliebt und die ihr nahegestanden hatten, zusammen, so dass ihre Erscheinung immer eine Menge von Erinnerungen im Herzen der Frau Maxa erweckte. »Frau Maxa« wurde sie von ihren Freunden und nahen Bekannten genannt, seit sie ihren Mann verloren und den Pfarrhof unten im Tal wieder mit der alten Heimat vertauscht hatte, um sie von der Frau Pfarrer des Ortes zu unterscheiden. Als kleines Kind war sie gewohnt gewesen, die Apollonie öfters auf dem Pfarrhof, ihrem Elternhause, erscheinen zu sehen. Die damalige Schlossherrin, die Frau Baron von Wallerstätten, hatte den Herrn Pfarrer über vieles zu fragen, und Apollonie, damals ein junges Mädchen, war ihre Botin, die immer gern im Pfarrhaus gesehen wurde. Sie war von ihren braven, sehr arbeitsamen Eltern in aller Ehrbarkeit erzogen und sehr früh von der Frau Baron zu allerlei Diensten angestellt worden. Als es sich zeigte, wie flink und gewandt und in allen Arbeiten tüchtig die junge Apollonie war, wurde ihr auf dem Schlosse immer mehr übertragen und anvertraut. Die Frau Baron unternahm im Hause nichts mehr ohne der Apollonie Rat und Hilfe, und die heranwachsenden Kinder hatten sie zu allen erdenklichen Dienstleistungen nötig, denn sie war immer bereit, zu tun, was sie wollten. Viele Jahre lang gehörte die ergebene, treue Dienerin so ganz und gar zum Schlosse, dass sie allgemein die Schlossapollonie genannt wurde. Frau Maxa wurde plötzlich in ihren Gedanken an die vergangenen Zeiten durch die lauten wiederholten Rufe: »Mama! Mama!« zweier heller Kinderstimmen unterbrochen. »Mama!« ertönte es noch einmal, und nun standen die beiden kleinen Schreier vor ihr: »Der Lehrer hat uns ein Blatt vorgelesen, da stand -«
»Soll ich auch? Soll ich auch?« tönte es dazwischen.
»Mäzli«, sagte die Mutter, »lass Lippo fertig berichten, sonst kann ich nicht verstehen, was ihr wollt.«
»Mama, der Lehrer hat uns ein Blatt vorgelesen«, wiederholte Lippo, »da stand drin, dass in Sils am Berg -«
»Soll ich auch? Soll ich auch?« fuhr Schwester Mäzli wieder dazwischen.
»Nun, Mäzli, sei ganz ruhig, bis Lippo zu Ende geredet hat«, befahl die Mutter.
»Er hat schon zweimal dasselbe gesagt und macht so lange: In Sils am Berg hat’s gebrannt und man muss etwas schicken, soll ich auch, Mama, soll ich auch?« In einem Atemzug hatte Mäzli ihre Sache vorgebracht.
»Du hast nicht recht berichtet, du hast gar nicht vorn angefangen«, sagte Lippo entrüstet, »man muss nicht in der Mitte anfangen, das hat der Lehrer selbst gesagt. Jetzt will ich’s recht erzählen, Mama: Der Lehrer hat uns ein Blatt -«
»Das wissen wir nun wirklich, Lippo«, bemerkte die Mutter, »was stand in dem Blatt?«
»In dem Blatt stand: In Sils am Berg hat eine grosse Feuersbrunst zwei Häuser zerstört, und alles was drin war, ist verbrannt. Dann hat der Lehrer gesagt, alle Schüler von allen Klassen -«
»Soll ich auch? Soll ich auch?« drängte Mäzli.
»Mach fertig, Lippo, nur ein wenig rascher«, sagte die Mutter.
»Dann hat der Lehrer gesagt: Alle Schüler von allen Klassen sollen etwas von ihren Sachen bringe, damit die abgebrannten Kinder -«
»Soll ich auch, Mama? Soll ich gleich gehen und alles zusammentun, was sie haben müssen?« stiess Mäzli nun so eilig heraus, als wäre der letzte Augenblick zum Handeln da.
»Ja, du kannst auch etwas von deinen Kleidern geben, und Lippo soll von den seinen etwas bringen«, sagte die Mutter, »ich helfe euch nachher das Rechte aussuchen, wir haben ja Zeit. Morgen ist’s Sonntag; am Montag werden die Kinder ihre Sachen dem Lehrer überbringen; er wird sie ja selbst versenden wollen.«
Lippo bestätigte diese Vermutung und wollte eben die Worte des Lehrers mitteilen, in denen er die Aufforderung zum Überbringen an die Klasse erlassen hatte; aber er kam nicht mehr dazu.
Kurt kam zurückgerannt und rief, jeden anderen Laut übertönend: »Mutter, ich habe vergessen, dir etwas auszurichten: Bruno kommt nicht zum Abendessen, der Herr Pfarrer ist mit ihm und den zwei anderen nach Hohenems hinaufgeklettert, sie kommen erst um neun Uhr heim.«
Die Mutter sah ein wenig erschrocken aus: »Sind die zwei anderen die beiden Mitschüler, die Amtsrichtersjungen?« Kurt bejahte.
»Wenn da nur alles gut abläuft«, fuhr sie fort. »Jedesmal, wenn die drei ausser den Unterrichtsstunden zusammen sind, kommen sie aneinander. Ich hatte mich so gefreut, als wir hierherkamen, dass Bruno sich die beiden zu Freunden machen konnte, und nun muss ich in steter Sorge sein, wenn sie zusammenkommen.«
»Ja, wenn du die beiden gekannt hättest, so hättest du dich auf diese Freundschaft nie gefreut, Mutter«, versicherte Kurt. »Wo sie jemand etwas zuleide tun können, da tun sie’s sicher und immer hinterrücks. Und Bruno ist ja immer gerade wie ein gefülltes Pulverhorn: nur ein Fünkchen hinein, und gleich feuert er und knallt los.«
»Wir sollen hinein, es ist Zeit«, sagte die Mutter, nahm ihre beiden Jüngsten bei der Hand und ging dem Hause zu. Kurt folgte. Es war ihm nicht entgangen, wie sich nach seinen Worten ein Zug der Bekümmernis über der Mutter Gesicht verbreitet hatte. Das war ihm nicht recht, er sah seine Mutter nicht gern bekümmert.
»Mutter, siehst du, da ist gar kein Grund, dass du dir Sorge machst«, sagte er zuversichtlich, »was Bruno ihnen tut, das geben sie ihm doppelt zurück, nur immer auf heimtückische Weise, im offenen Felde fürchten sie ihn.«
»Meinst du wirklich, das sei ein Trost für mich, Kurt?« fragte sie, sich zu ihm kehrend. Dem Kurt kam es nun auch so vor, als ob sein Trost eigentlich gar keiner für die Mutter sein konnte. Aber einen musste es doch geben. An jedem Übel entdeckte Kurt gleich eine so gute Seite, dass das Übel dagegen fast nicht aufkam. Jetzt ersah er auch hier die gute Seite: »Weisst du, Mutter, wenn Bruno ausgedonnert hat, ist alles wieder gut. In fünf Minuten ist er wie ein ausgeputztes Flintenrohr, alles