Längst waren alle Lichter ringsum ausgelöscht. Draußen war es längst dunkel, daß man die Bäume im Garten nicht mehr sehen konnte. Auf dem Kirchturm drüben im Flecken schlug es ein Uhr. Hedwig zog sich nun zurück. Als sie ihr Licht ausgelöscht hatte, fiel, wie jeden Abend zuvor auch geschehen war, der Schimmer eines anderen Lichtes in ihr Zimmer. Heute fiel es ihr auf; so spät war sie noch nie gewesen, und dennoch war in dem kleinen Neubau, der zur Pension gehörte, jemand noch später als sie. Immer noch sah sie den Schimmer, sie konnte lange keinen Schlaf finden –, es mußte schon nach zwei Uhr sein –, das Licht brannte noch drüben.
Fünftes Kapitel.
Als Hedwig nach einer unruhig verträumten Nacht früh ihre Fenster aufmachte, um an dem frischen Morgenhauch sich zu erquicken, hörte sie schon die Stimme des Barons im Garten erklingen; zu sehen war er zwar nirgends. Jetzt gewahrte sie ihn in der Tiefe, wie er eben dem »Familienloch« entstieg und auf die Oberfläche der Erde trat. Er war in großem Eifer, machte die lebhaftesten Gebärden in das Loch zurück und lief dann in der Richtung der Stallungen den Garten entlang, hinter ihm her der Hauswirt und zuletzt der Bediente des Hauses, alle drei im Sturmschritt. »Da wird eine Partie im Gange sein«, dachte Hedwig. Sollte sie dem Baron, bevor er wegging, die Freude machen, ihm mitzuteilen, daß der erste Schritt gegen seine Römerin getan sei und der zweite bald folgen werde? Sie ging nach dem Garten hinunter; es war noch stille ringsum, die Fensterläden überall am Hause noch geschlossen. Der Morgenwind wehte frisch durch das Tal. Groß und dunkel standen die Berge auf dem lichtblauen Horizont; noch war die Sonne nicht über den waldigen Berggipfel herübergestiegen. Hedwig stand an dem Pförtchen und schaute, wie drüben die hohen Felsenzacken der Diablerets sich leise röteten im Aufgehen der Sonne. Ein Handkarren rollte des Weges daher; der Bediente des Hauses zog ihn. Wunderlich hohe, ganz unförmlich aufgetürmte Ballen lagen darauf; hinterher kam der Baron gelaufen.
»Schon auf Reisen?« fragte Hedwig, als die Expedition herannahte.
»Jawohl! Jawohl!« entgegnete der Baron eilig und ging rasch vorbei. Er war sichtlich verlegen.
Hedwig konnte ihm nicht sagen, was sie im Sinne hatte; er hatte offenbar keine Lust, still zu stehen. »Gewiß eine Partie nach amerikanischem Stil, und der Baron muß den Proviantwagen vorausführen«, sagte sich Hedwig, »das mochte ihn etwas verlegen machen.« Als sie gegen das Haus zurückkam, trat ihr Frau v. L. entgegen.
»Meine Werteste«, sagte sie mit etwas steifer Freundlichkeit, »ich hatte verstanden, Sie wollten sich vorzugsweise allein halten und keinen Umgang pflegen; ich muß aber annehmen, daß Sie in letzter Zeit Ihren Sinn etwas geändert haben. Es ist mir, da sie einmal an mich empfohlen sind, eine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß eine gewisse Art von Umgang wirklich besser vermieden würde. Dieser Herr Baron, den Sie zu kennen scheinen, hat das Betragen eines außerordentlich leichtsinnigen, frivolen Menschen, von dem Sie sich zurückziehen müssen, um ihm zu zeigen, daß er durch seine tadelnswerte Weise wahre Freunde von sich entfernt. So allein können Sie etwas zu seinem Besten tun, wenn Sie sich für ihn interessieren sollten. Ich habe gestern im Saale allem beigewohnt. Ich will nicht entscheiden, wer jenes äußerst frivole Motto zu seinem Namen hingeschrieben hatte; aber das muß ich Ihnen wiederholen: das Wohl solcher Menschen kann man nur dadurch fördern, daß man sich von ihnen wendet.«
Hedwig hatte ruhig zugehört, bis Frau von L. zu Ende war.
»Ich kann Ihre Ansicht nicht teilen, Frau v. L.«, erwiderte sie nun; »der Baron ist kein frivoler Mensch; wo er sich etwas leichtfertig ausdrückt, wie in seinem Motto, das Sie ohne Ungerechtigkeit ihm selbst zuschreiben dürfen, da legt er immer noch einen ernsteren Sinn hinein, als er sich den Anschein geben will, davon bin ich überzeugt. Daneben ist er eine so gerade, so vollkommen ehrliche Natur, daß er wohl zu denen gehört, von denen es heißt: ›Den Aufrichtigen läßt es Gott gelingen.‹ Auch nimmt er schon ein ernstes Wort an, wo er fühlt, daß es aus wahrer Teilnahme für ihn herkommt. Glauben Sie wirklich, Frau v. L., daß wir den Menschen mehr wohltun können und sie eher für alles, was uns teuer und heilig ist, gewinnen, wenn wir ihnen den Rücken kehren, als wenn wir in Freundlichkeit mit ihnen umgehen und sie unsere Teilnahme an ihrem Wohlergehen fühlen lassen?«
»Ich sehe«, sagte Frau v. L. kühl, »daß unsere Wege mehr auseinandergehen, als ich erwartet hatte. Vielleicht wird Ihnen noch manches Licht aufgehen, bis Sie mein Alter und meine Erfahrung haben. Mögen Sie bis dahin nicht selbst Schaden leiden im vermeintlichen Wohltun gegen andere. Möge Ihnen auch die Erkenntnis aufgehen, daß Sie nicht im Gehorsam wandeln, sondern nach eigenem Gutdünken.«
Damit entfernte sich Frau v. L. – Hedwig suchte sich den Sinn dieser Schlußworte klar zu machen: »nach eigenem Gutdünken«. Allerdings hatte sie an ihrem eigenen Herzen erfahren, wie anders wohltuend und gewinnend ein teilnehmendes Eingehen in die Entwicklung und den Lebensgang Andersdenkender und ein liebevolles Verständnis für ihr Wesen, als ein bestimmtes Sich-abwenden von ihnen wirkt. Daß dieses letztere von entschiedenen Christen den unentschiedenen gegenüber als das von Gott Geforderte anzusehen sei, hatte sie nie so verstanden, noch war sie so gelehrt worden. Hedwig fühlte wohl, daß sie in ein näheres Verhältnis mit Frau v. L. nicht kommen würde, doch wollte sie suchen, wenigstens in Frieden mit ihr auszukommen und ihr kein Ärgernis zu geben; ihren eigenen Weg aber gedachte sie, ihrer Überzeugung treu, weiter zu gehen.
Doch noch vor dem Frühstück sollte sie erfahren, daß sie ihren guten Vorsatz nur zum Teil ausführen könne.
Als Hedwig ins Eßzimmer eintreten wollte, kam ihr Frau v. L. wieder entgegen.
»Ich erwartete Sie hier«, sagte sie; »wie konnte ich nur die Hauptsache vergessen, die ich Ihnen mitteilen wollte. Es findet morgen früh, wie jeden Sonntagmorgen, eine Versammlung statt unten am See, ein Gottesdienst der wirklichen Christengemeinde, d. h. der ›Brüder‹. In einer kleinen Stunde können wir mit der Eisenbahn unten sein.«
»Ich gehe in die Kirche am Sonntagmorgen«, entgegnete Hedwig, »und diejenigen, die mit mir dahin gehen, halte ich alle für wirkliche Christen oder für solche, die es werden wollen, weil sie dahin kommen, und im Werden sind wir ja doch alle begriffen.«
»Ich will lieber annehmen«, entgegnete Frau v. L. in kurzem Ton, »es fehle Ihnen an der rechten Erkenntnis, als am guten Willen. Suchen Sie jene zu erlangen, ich sage es zu Ihrem Besten.« Damit verließ sie die Veranda. –
Zu ihrem Erstaunen bemerkte Hedwig am Frühstückstisch sowohl den Baron, als auch alle seine Freunde, die Amerikaner, Hamburger, Sachsen, Irländer und was zum Partieenklub gehörte. Die Morgentour des Barons mußte nur eine Vorbereitung zur Partie des Tages gewesen sein.
Ohne die allgemeine Morgenbegrüßung, die regelmäßig nach dem Frühstück auf der sonnigen Veranda stattfand, abzuwarten, eilte Hedwig fort, heute einmal ihren Plan auszuführen, zu der Ruine auf dem Waldhügel hinaufzusteigen. Der lahmen Juliette schnell einen Morgengruß zu sagen, wollte Hedwig nicht versäumen; führte auch ihr Weg nicht gerade da vorbei, so konnte sie ja nachher doch schnell über die Wiesen hin aus den Waldweg gelangen. Als sie die Anhöhe hinaufging, von wo sie gewöhnlich schon das Kind in seinem Sessel erblickte, bot sich ihr ein ganz neuer Anblick dar. Nicht das kranke Kind konnte sie sehen, aber eine Menge anderer Kinder, die da herumstanden und sich drängten und pufften; Frauen, die sich ganz aufgeregt gebärdeten, einige Männer, die verwundert dastanden; – was konnte das bedeuten zu einer Zeit, da sonst all' diese Leute bei ihrer Arbeit waren? Sollte der kranken Juliette etwas zugestoßen sein? Hedwig eilte hinzu. Da saß das Kind in seinem Sessel, mitten in all' den lärmenden