»Und noch in einer Weise hast du dich verrechnet«, fuhr die Großmama fort. »Sieh, wie das Böse, das du tatest, zum Besten ausfiel für die, der du es zufügen wolltest! Weil Klara keinen Sessel mehr hatte, auf dem man sie hinbringen konnte, und doch die schönen Blumen sehen wollte, so strengte sie sich ganz besonders an zu gehen, und so lernte sie's und geht nun immer besser, und bleibt sie hier, so kann sie am Ende jeden Tag hinauf zur Weide gehen, viel öfter, als sie in ihrem Stuhle hinaufgekommen wäre. Siehst du wohl, Peter? So kann der liebe Gott, was einer böse machen wollte, nur schnell in seine Hand nehmen und für den andern, der geschädigt werden sollte, etwas Gutes daraus machen, und der Bösewicht hat das Nachsehen und den Schaden davon. Hast du nun auch alles gut verstanden, Peter, ja? So denk daran, und jedesmal, wenn es dich wieder gelüsten sollte, etwas Böses zu tun, denk an das Wächterchen da drinnen mit dem Stachel und der unangenehmen Stimme. Willst du das tun?«
»Ja, so will ich«, antwortete der Peter, noch sehr gedrückt, denn noch wußte er ja nicht, wie alles enden würde, da der Polizeidiener immer noch drüben stand neben dem Öhi.
»So, nun ist's gut, die Sache ist abgetan«, schloß die Großmama. »Nun sollst du aber auch noch ein Andenken an die Frankfurter haben, das dich freut. So sag mir nun, mein Junge, hast du auch schon mal was gewünscht, das du haben möchtest? Was war's denn? Was möchtest du am liebsten haben?«
Jetzt hob der Peter seinen Kopf auf und starrte die Großmama mit ganz kugelrunden, erstaunten Augen an. Noch immer hatte er etwas Schreckliches erwartet, und nun sollte er auf einmal bekommen, was er gern hätte. Dem Peter kam alles durcheinander in seinen Gedanken.
»Ja, ja, es ist mir Ernst«, sagte die Großmama. »Du sollst etwas haben, das dich freut, zur Erinnerung an die Leute von Frankfurt und zum Zeichen, daß sie nicht mehr daran denken, daß du etwas Unrechtes getan hast. Verstehst du's nun, Junge?«
In dem Peter fing die Einsicht aufzudämmern an, daß er keine Strafe mehr zu befürchten habe und daß die gute Frau, die vor ihm saß, ihn aus der Gewalt des Polizeidieners errettet hatte. Jetzt empfand er eine Erleichterung, als fiele ein Berg von ihm ab, der ihn fast zusammengedrückt hatte. Aber nun hatte er auch begriffen, daß es besser geht, wenn man gleich eingestellt, was gefehlt ist, und auf einmal sagte er:
»Und das Papier hab ich auch verloren.«
Die Großmama mußte sich ein wenig besinnen, aber der Zusammenhang kam ihr bald in den Sinn, und sie sagte freundlich: »So, so, es ist recht, daß du's sagst! Immer gleich bekennen, was nicht recht ist; dann kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was hättest du gern?«
Nun konnte der Peter auf der Welt wünschen, was er nur wollte. Es wurde ihm fast schwindelig. Der ganze Jahrmarkt von Maienfeld flimmerte vor seinen Augen mit all den schönen Sachen, die er oft stundenlang angestaunt und für immer unerreichbar gehalten hatte, denn Peters Besitztum hatte nie einen Fünfer überstiegen, und alle die lockenden Gegenstände kosteten immer das Doppelte. Da waren die schönen roten Pfeifchen, die er so gut für seine Geißen brauchen konnte. Da waren die lockenden Messer mit runden Heften, Krötenstecher genannt, mit denen man in allen Haselrutenhecken die besten Geschäfte machen konnte.
Tiefsinnig stand der Peter da, denn er überdachte, welches von den zweien das Wünschbarste wäre, und er fand den Entscheid nicht. Aber jetzt kam ihm ein lichtvoller Gedanke; so konnte er sich noch bis zum nächsten Jahrmarkt besinnen.
»Einen Zehner«, antwortete Peter jetzt entschlossen.
Die Großmama lachte ein wenig.
»Das ist nicht übertrieben. So komm her!« Sie zog jetzt ihren Beutel heraus und nahm einen großen, runden Taler heraus; darauf legte sie noch zwei Zehnerstückchen.
»So, wir wollen gerade Rechnung machen«, fuhr sie fort; »das will ich dir erklären. Hier hast du nun gerade so viele Zehner, als Wochen im Jahre sind! So kannst du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und verbrauchen, das ganze Jahr durch.«
»Meiner Lebtag?« fragte der Peter ganz harmlos.
Jetzt mußte die Großmama so ungeheuer lachen, daß die Herren drüben ihr Gespräch unterbrechen mußten, um zu hören, was da vorgehe.
Die Großmama lachte immer noch.
»Das sollst du haben, Junge, das gibt einen Passus in mein Testament, hörst du, mein Sohn? Und nachher geht er in das deinige über, also: Dem Geißenpeter einen Zehner wöchentlich, solange er am Leben ist.«
Herr Sesemann nickte zustimmend und lachte auch herüber.
Der Peter schaute noch einmal auf das Geschenk in seiner Hand, ob es auch wirklich wahr sei. Dann sagte er: »Danke Gott!« Und nun rannte er davon in ganz ungewöhnlichen Sprüngen, aber diesmal blieb er doch auf den Füßen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schrecken davon, sondern eine Freude, wie der Peter noch gar keine gekannt hatte sein Leben lang. Alle Angst und Schrecken waren vergangen, und jede Woche hatte er einen Zehner zu erwarten sein Leben lang.
Als später die Gesellschaft vor der Almhütte das fröhliche Mittagsmahl beendet hatte und nun noch in allerlei Gesprächen zusammensaß, da nahm Klara ihren Vater, der ganz strahlte vor Freude und jedesmal, wenn er sie wieder anschaute, noch ein wenig glücklicher aussah, bei der Hand und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an der matten Klara gekannt hatte:
»O Papa, wenn du nur wüßtest, was der Großvater alles für mich getan hat! So viel alle Tage, daß man es gar nicht nacherzählen kann, aber ich vergesse es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich, wenn ich nur dem lieben Großvater auch etwas tun könnte oder etwas schenken, das ihm so recht Freude machen würde, auch nur halb soviel, wie er mir Freude gemacht hat.«
»Das ist ja auch mein größter Wunsch, liebes Kind«, sagte der Vater.
»Ich sinne schon immer darüber nach, wie wir unserem Wohltäter unseren
Dank auch nur einigermaßen dartun könnten.«
Herr Sesemann stand jetzt auf und ging zum Öhi hinüber, der neben der Großmama saß und sich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er stand aber jetzt auch auf. Herr Sesemann ergriff seine Hand und sagte in der freundschaftlichsten Weise: »Mein lieber Freund, lassen Sie uns ein Wort zusammen sprechen! Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich seit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was war mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das ich mit keinem Reichtum gesund und glücklich machen konnte? Nächst unserm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind gesund gemacht und mir, wie ihm, damit ein neues Leben geschenkt. Nun sprechen Sie, womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen? Vergelten kann ich nie, was Sie uns getan haben, aber was ich vermag, das stelle ich zu Ihrer Verfügung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?«
Der Öhi hatte still zugehört und den glücklichen Vater mit vergnügtem
Lächeln angeblickt.
»Herr Sesemann glaubt mir wohl, daß ich meinen Teil an der großen Freude über die Genesung auf unserer Alm auch habe; meine Mühe ist mir wohl dadurch vergolten«, sagte jetzt der Öhi in seiner festen Weise. »Für die gütigen Anerbietungen danke ich Herrn Sesemann, ich habe nichts nötig. Solange ich lebe, habe ich für das Kind und für mich genug. Aber einen Wunsch hätte ich; wenn mir der erfüllt werden könnte, so hätte ich für dieses Leben keine Sorge mehr.«
»Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!« drängte Herr
Sesemann.
»Ich bin alt«, fuhr der Öhi fort, »und kann nicht mehr lange hierbleiben. Wenn ich gehe, kann ich dem Kinde nichts hinterlassen, und Verwandte hat es keine mehr; nur eine einzige Person, die würde noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen. Wenn mir der Herr Sesemann die Zusicherung geben wollte, daß das Heidi nie in seinem Leben hinaus muß, um sein Brot unter den Fremden zu suchen, dann hätte er mir reichlich zurückgegeben, was ich für ihn und sein Kind tun konnte.«
»Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals eine Rede sein«, brach Herr Sesemann nun aus. »Das Kind gehört ja zu uns. Fragen Sie