Auch der Peter lag still und regungslos mitten in dem Blumenfelde, denn er war fest eingeschlafen.
Leise und lieblich wehte hier der Wind hinter den schützenden Felsen hervor und säuselte oben in den Büschen. Von Zeit zu Zeit mußte das Heidi wieder aufstehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer irgendwo noch schöner, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch stärker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; überall mußte es wieder hinsetzen.
So vergingen die Stunden.
Die Sonne war längst über den Mittag hinaus, als ein Trüppchen der Geißen ganz ernsthaft auf die Blumenhalde zugeschritten kam. Es war nicht ihr Weideplatz, sie wurden nie dahin geführt, denn es gefiel ihnen nicht, in den Blumen zu grasen. Sie sahen aus wie eine Gesandtschaft, der Distelfink voran. Die Geißen waren sichtlich ausgegangen, ihre Gesellschafter zu suchen, die sie so lange im Stich gelassen hatten und über alle Ordnung hinaus fortgeblieben waren, denn die Geißen kannten ihre Zeit wohl. Als der Distelfink die drei Vermißten in dem Blumenfelde entdeckte, stieß er ein überlautes Meckern aus, und auf der Stelle stimmte der ganze Chor ein, und fortmeckernd kamen sie alle dahergetrabt. Jetzt erwachte der Peter. Er mußte sich aber stark die Augen reiben, denn es hatte ihm geträumt, der Rollstuhl stehe wieder schön rot gepolstert und unversehrt vor der Hütte, und noch im Erwachen hatte er die goldenen Nägel um das Polster herum in der Sonne blitzen gesehen, aber jetzt entdeckte er, daß es nur die gelben Glitzerblümchen auf dem Boden gewesen waren. Jetzt kam dem Peter die Angst zurück, die er beim Anblick des unbeschädigten Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch das Heidi versprochen hatte, nichts zu machen, so war doch nun die Furcht im Peter lebendig geworden, die Sache könnte auch sonst noch auskommen. Er ließ sich jetzt ganz zahm und willig zum Führer machen und tat alles perfekt so, wie das Heidi es haben wollte.
Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte das Heidi hurtig seinen vollen Speisesack herbei und schickte sich an, sein Versprechen zu lösen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte seine Drohung sich bezogen. Es hatte wohl bemerkt am Morgen, wieviel gute Sachen der Großvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte es vorausgesehen, daß dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als er dann aber so störrig war, wollte es ihm zu verstehen geben, daß er nichts bekomme, was der Peter aber anders gedeutet hatte. Nun holte das Heidi Stück für Stück aus seinem Sack heraus und machte drei Häufchen davon, die wurden so hoch, daß es voller Befriedigung vor sich hinsagte: »Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben.«
Jetzt trug es jedem sein Häufchen zu, und mit dem seinigen setzte es sich neben Klara hin, und die Kinder ließen sich's wohl schmecken nach der großen Anstrengung.
Es ging aber, wie das Heidi vorausgesehen hatte: Als sie beide völlig satt waren, blieb noch so viel übrig, daß dem Peter noch einmal ein Häufchen, so groß wie das erste, zugeschoben werden konnte. Er aß still und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er vollzog sein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Dem Peter lag etwas auf dem Magen, das nagte und würgte ihn und klemmte ihm jeden Bissen zusammen.
Die Kinder waren so spät zu ihrer Mahlzeit gekommen, daß schon gleich nachher der Großvater zu sehen war, der die Alm hinanstieg, um sie abzuholen. Das Heidi stürzte ihm entgegen; es mußte ihm zuerst sagen, was sich ereignet hatte. Es war indes so erregt von seiner beglückenden Nachricht, daß es die Worte fast nicht fand, sie dem Großvater mitzuteilen. Er verstand aber sogleich, was das Kind berichtete, und eine helle Freude kam auf sein Gesicht. Er beschleunigte seinen Schritt, und bei Klara angekommen, sagte er fröhlich lächelnd:
»So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!«
Dann hob er Klara vom Boden auf, umfaßte sie mit dem linken Arm und hielt ihr seine Rechte als starke Stütze für ihre Hand hin, und Klara marschierte, mit der festen Wand im Rücken, noch viel sicherer und unerschrockener dahin, als sie vorher getan hatte.
Das Heidi hüpfte und jauchzte nebenher, und der Großvater sah aus, als sei ihm ein großes Glück widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit einemmal auf seinen Arm und sagte: »Wir wollen's nicht übertreiben, es ist auch Zeit zur Heimkehr«, und er machte sich gleich auf den Weg, denn er wußte, daß nun der Anstrengungen für heute genug waren und Klara der Ruhe bedurfte.
Als der Peter spät am Abend mit seinen Geißen nach dem Dörfli herunter kam, stand eine Menge von Leuten an einem Knäuel zusammen, und eins stieß das andere ein wenig weg, um besser sehen zu können, was mittendrin am Boden lag. Das mußte der Peter auch sehen; er drückte und drängte rechts und links und bohrte sich hinein.
Da, jetzt sah er's.
Auf dem Grase lag das Mittelstück vom Rollstuhl, und noch ein Teil des Rückens hing daran. Das rote Polster und die glänzenden Nägel zeugten noch davon, wie prächtig der Stuhl in seiner Vollkommenheit ausgesehen hatte.
»Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen«, sagte der Bäcker, der neben dem Peter stand; »wenigstens 500 Franken war er wert, das wett ich mit jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen ist.«
»Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi selbst gesagt«, bemerkte die Barbel, die nicht genug das schöne rote Zeug bewundern konnte.
»Es ist gut, daß es kein anderer ist, der's getan hat«, sagte der Bäcker wieder; »dem ging's schön! Wenn es der Herr in Frankfurt vernimmt, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich für mich bin froh, daß ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war; der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen wurde.«
Es wurden noch viele Meinungen ausgesprochen, aber der Peter hatte genug gehört. Er kroch ganz zahm und sachte aus dem Knäuel heraus und lief aus allen Kräften den Berg hinauf, so als wäre einer hinter ihm drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine furchtbare Angst eingejagt. Er wußte ja jetzt, daß jeden Augenblick ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache untersuchen mußte, und dann konnte es doch rauskommen, daß er es getan hatte, und dann würden sie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus schleppen. Das sah der Peter vor sich, und seine Haare sträubten sich vor Schrecken.
Ganz verstört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts, er wollte seine Kartoffeln nicht essen; eilends kroch er in sein Bett hinein und stöhnte.
»Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegessen, er hat's im Magen, daß er so ächzen muß«, meinte die Mutter Brigitte.
»Du mußt ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein
Stücklein von dem meinen«, sagte die Großmutter mitleidig.
Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenschein hinausschauten, sagte das Heidi:
»Hast du nicht heut den ganzen Tag denken müssen, wie gut es doch ist, daß der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch so furchtbar stark beten um etwas, wenn er etwas viel Besseres weiß?«
»Warum sagst du das jetzt auf einmal, Heidi?« fragte Klara.
»Weißt du, weil ich in Frankfurt so stark gebetet habe, daß ich doch auf der Stelle heimgehen könne, und weil ich das immer nicht konnte, habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehört. Aber weißt du, wenn ich so bald fortgelaufen wäre, so wärest du nie gekommen, und du wärest nicht gesund geworden auf der Alp.«
Klara war ganz nachdenklich geworden. »Aber, Heidi«, fing sie nun wieder an, »dann müßten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe Gott ja schon immer etwas viel Besseres im Sinn hat, als wir wissen und wir von ihm erbitten wollen.«
»Ja, ja, Klara, meinst du, es gehe dann nur so?« eiferte jetzt das Heidi. »Alle Tage muß man zum lieben Gott beten und um alles, alles, denn er muß doch hören, daß wir es nicht vergessen, daß wir alles