Manchmal brachte man vor Theodor Blutiggeschlagene, rotes Blut rann über ihre Gesichter. In Theodor flammte das alte rauschende Rot auf, rote Sonnenräder kreisten vor seinem Auge, ein Jubel sang in ihm, Jubel hob ihn hoch, er freute sich, war leicht und beschwingt.
Einer lebte, dessen Blut er sehen wollte, jener Mann, der ihn verfolgt hatte. Noch sah Theodor das flackernde Haar des Mannes, sein weißes, hassendes Angesicht, den hochgeschwungenen Arm; den Sang des niedersausenden Stockes hörte er und fühlte Schmerz in der geschlagenen Hand. Noch lebte der Mann, der Theodor feige gesehen hatte, ihn, Theodor Lohse, als flüchtigen Feigling. Nach diesem Mann fahndeten alle Spitzel vergebens, sein Versteck suchte man von allen Verhafteten zu erfahren. Bei jeder Meldung, daß ein neuer Häftling angekommen, hoffte Theodor, auf die Spur seines Feindes zu kommen. Die meisten folterte man vergeblich. Sie wußten nichts oder verrieten nichts. Einige teilten Falsches mit. Und hielt man ihnen dann ihre Lügen vor, so lachten sie. Oder sie hatten sich geirrt.
Nur von einem konnte Hoffnung kommen, von Lenz. Lenz kannte den Mann.
»Es ist sozusagen Günthers Schwager«, erzählte Lenz. »Eine Art Familienrache. Er will Sie umbringen. Aber ich glaube, ich bin auf seiner Spur.«
Und immer wieder war es eine falsche Spur. Jeder Morgen brachte Benjamins Besuch und neue Hoffnungen. Jeder Abend enttäuschende, schmerzhafte Kunde.
Lenz beschrieb ihn genau. Er war der Bruder jenes Mädchens, das Günther geheiratet hätte. Lenz sagte »geheiratet hätte«. Manchmal sagte Benjamin »für das Günther gestorben ist«. Und, wenn er sich vergaß, »für das Sie ihn getötet haben«.
Und dieses Wort war unangenehm. Theodor sah die aufwärtsgekrampfte Oberlippe, weißes Zahnfleisch, einen schielenden Blick.
Aber Lenz beschrieb auch jenes Mannes Kleidung und seine Gewohnheiten. Er hatte ihn schon fast gefangen. Nur eine Lücke blieb immer offen, durch die der Gesuchte floh.
»Wir werden ihn finden«, versicherte Benjamin Lenz.
Aber er fand nicht den Mann, den Todfeind Theodors.
»Du hast einen Kummer«, sagte Elsa, »und erzählst mir nichts.«
»Es ist die Arbeit«, sagte Theodor. Und begann eine Rede über die Ziele der vaterländischen Politik.
XXIX
Die Nacht verweigerte den Schlaf, und in ihrer rauschenden Stille schwoll Theodors Furcht vor dem unbekannten, schrecklichen Feind. Befand er sich jenseits der Grenzen? Lebte er in Theodors Nähe? Lebte er in Theodors Haus vielleicht, als Portier verkleidet? Hatte der Kellner in der kleinen Konditorei gegenüber dem Amt nicht das Gesicht des Feindes? Dieses flackernde Haar? Diese weiße Farbe des Hasses? Den starken, gewichtigen Gang? Die breiten Schultern?
Lebte jener Mann in der Uniform des staatlichen Chauffeurs, der Theodors Auto lenkte? Lauerte er nicht hinter jeder Straßenecke, um die Theodor bog? Hatte er nicht in diesem Hause, unter dieses Bett eine Bombe gelegt?
Theodor machte Licht und ging ein paarmal durchs Zimmer und sah durch das Fenster die stille Nacht in den Straßen und das zuckende Licht der Laterne und lauschte auf Schritte, die fern verhallten.
Spät, schon graute der Morgen, überwältigte Theodor schwerer Schlaf. Neue Hoffnung brachte der Tag, neue Furcht und die grausamen Stunden des Wartens. Zu Hause konnte Theodor über dieses eine nicht sprechen. Er hätte erzählen, alles von Anfang erzählen müssen. Von Günther erzählen, von Klitsche. Es wäre keine Erzählung – eine Beichte; Sturz von der mühsam erreichten Höhe; Entblößung; Selbstmord.
So blieb nur Benjamin.
Benjamin hörte, tröstete, versprach, erzählte Neuigkeiten, gab Ratschläge, erfuhr den Inhalt geheimer Konferenzen, erfuhr geheime Pläne der Regierung, photographierte Akten, verkaufte die Schriftstücke, brachte andere zu Theodor.
Er hatte viel zu tun.
Es erhoben sich die Arbeiter in den Fabriksvierteln, und die Arbeitslosen demonstrierten, denn sie erhielten gar nichts mehr. Die lange mühsam gebändigte Wut der Massen flammte wieder auf. Aus Sachsen zogen Arbeitslose herbei; sie fuhren nicht mit der Bahn, sie kamen zu Fuß, sie wanderten auf den breiten Straßen der Länder, sie wanderten durch Schnee wirbelnden Wind, der den Frühling ankündigte.
Ja, es kam der Frühling. Man fühlte ihn schon auf den Straßen, in der Mitte schmolz der Schnee, und an den Rändern bedeckte ihn eine graue Kruste. Aber die Hungrigen, die Entwichenen, die geflüchteten Häftlinge und die Arbeiter, die noch vor der Verhaftung die Flucht aus ihrer Heimat ergriffen hatten und in der großen Stadt unerkannt zu verschwinden hofften, die Frauen, deren Männer getötet waren, die jüdischen Emigranten aus dem Osten, die jede Eisenbahn meiden mußten – sie fühlten den Frühling wie ein dreifaches Weh. Mit dem singenden Frost des Winters hatten sie sich befreundet, mit dem knisternden Schnee, seinen zärtlichen Flocken, aber den scharfen Wind, der in sich die kommenden Regen des April trug, der die Kleider zerbiß und in die Poren der Haut drang, ertrugen sie nicht.
Nieder fielen sie in den Straßen, und das Fieber schüttelte sie, mit klappernden Kiefern erwarteten sie die letzte Stunde, und dann lagen sie starr auf den Straßen, und mitleidige Flüchtlinge, die später kamen, begruben die Leichen in den Feldern, des Nachts, wenn die Bauern es nicht sahen.
Wie ein lächelnder Mörder ging der Frühling durch Deutschland. Wer in den Baracken nicht starb, den Foltern entging, von den Kugeln der Nationalen Bürgerliga nicht getroffen wurde und nicht von den Knüppeln des Hakenkreuzes, wen der Hunger nicht zu Hause traf, wen die Spitzel vergessen hatten – der starb unterwegs, und die schwarzen großen Rabenschwärme kreisten über seinem Leichnam.
Krankheiten lagen geborgen in den Kleiderfalten der Wanderer, Krankheiten hauchte ihr Atem. Der Gendarm, der ihnen unterwegs entgegentrat, sog die Krankheit ein, die in ihrem Fluch lag, und wenn ihn nicht die Überzahl ermordete, starb er nach einigen Tagen. Soldaten starben in den Garnisonen. Patrouillen, die auf die Landstraßen ausgeschickt wurden, schlichen auf Seitenwegen, um der großen Krankheit nicht zu begegnen, und entgingen dem Tode nicht.
In den Städten aber sprachen die Bürger von der nationalen Erhebung, hielt Theodor Vorträge. Jetzt, mehr als je, drohte der innere Feind, und an der Grenze standen die Nachbarstaaten bereit, ins Land zu marschieren. Gymnasiasten exerzierten. Richter exerzierten. Priester schwangen Knüppel. Vor den Altären Gottes, in den großen schönen Kirchen des Landes, predigten Wanderredner.
Theodor Lohse beschäftigte alle Gymnasiasten, alle Studenten, die Nationale Bürgerliga. Er sprach am Abend in öffentlichen Versammlungen, er sprach sich hinauf, schon galt er mehr als der Polizeipräsident, mehr als der Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, mehr als der Minister.
Er stand auf dem Podium, und der Schall seiner eigenen Stimme hob ihn empor. Seine Frau saß in der ersten Reihe. Gesichert waren die Eingänge, die Türen, die Fenster, hier vergaß er jede Gefahr und sogar den Feind, den lauernden, den unbekannten. »Ich muß zu dir aufschaun!« sagte Elsa, und sie saß in der ersten Reihe und sah zu ihrem Mann empor, dem Erwachsenen und Wachsenden, Chef der Sicherheit – dachte sie –, Präsident des Reiches, Platzhalter für den kommenden Kaiser. Rauschende Feste in weißen Sälen, marmorne Treppen, goldene Lüster, große Abendtoilette, klirrende Sporen, Musik, Musik.
Neue Wahlen waren ausgeschrieben, wer weiß, ob nicht eine neue, glänzendere Stellung frei war.
Die Zeitungen schrieben: Theodor Lohse. Berichterstatter aus fremden Ländern kamen. »Die Welt« kannte Theodor Lohse. In den großen amerikanischen Blättern war seine Photographie.
»Einer der führenden Männer« hieß Theodor Lohse.
Warum