VIII
Nun arbeitete Friedrich – wie er und seine Freunde zu sagen pflegten – »für die Sache«. Er gewöhnte sich, den Enthusiasmus, ohne den er nicht leben konnte, aus der Entsagung und aus der Anonymität zu beziehn. Auch der Unerbittlichkeit, vor der er sich so gefürchtet hatte, entlockte er noch einen Reiz, der Hoffnungslosigkeit noch einen Trost. Er war jung. Und also glaubte er nicht nur an die Wirkung eines Opfers, sondern auch an den Lohn, der dem Opfer entblüht wie die Blume dem Grab. Dennoch gab es Stunden, die er seine »schwachen« nannte und in denen er sich eine private Hoffnung auf einen Sieg der Idee erlaubte, den er noch erleben sollte. Aber er gestand es nur, wenn er mit R. zusammenkam.
»Machen Sie sich nichts daraus!« sagte R. »Ich glaube nur an die Uneigennützigkeit der Toten. Wir alle wollen noch eine gute Stunde erleben und eine süße Rache.«
»Nur Savelli nicht!« sagte Friedrich.
»Sie täuschen sich«, erwiderte R. nicht ohne Gehässigkeit, wie mir damals schien. »Ihr kennt den Savelli nicht. Man wird ihn einmal verstehn, aber es wird zu spät sein. Er spielt einen Mann, dem sein eigenes Herz nicht mehr gehört, der es der Menschheit geschenkt hat. Aber man täuscht sich: Er hat keins. Ich ziehe einen Egoisten vor. Der Egoismus ist ein Symptom der Menschlichkeit. Unser Freund aber ist unmenschlich. Er hat das Temperament eines Krokodils im Trockenen, die Phantasie eines Pferdeknechts, den Idealismus eines Iswoschtschiks.«
»Und alles, was er bis jetzt getan hat?«
»Ein grober Irrtum, die Menschen nach ihren Taten zu beurteilen. Überlassen Sie das den bürgerlichen Historikern! Zu Handlungen kommt man unschuldig wie zu Träumen. Unser Freund hätte ebensogut Pogrome veranstalten können, wie er Banken beraubt hat!«
»Und weshalb bleibt er in unserm Lager?«
»Weil er zu wenig begabt ist, sagen wir: zu wenig beweglich, um sich von dem Zwang seiner Vergangenheit zu befreien. Männer seiner Art bleiben auf dem Weg, den sie einmal eingeschlagen haben. Er ist kein Verräter. Aber er ist unser Feind. Er haßt uns wie der russische Bauer den intellektuellen Städter. Er haßt besonders mich.«
»Warum Sie besonders?«
»Weil er auch Ursache dazu hat. Seien wir gerecht: Ich bin kein Russe. Ich bin ein Europäer. Ich weiß, daß mich von unsern Genossen noch viel mehr trennt als etwa uns alle, die Intellektuellen, von Proletariern. Ich habe Pech: Ich habe eine westliche Bildung. Obwohl ich radikal bin, liebe ich die Mitte. Obwohl ich den großen Tumult vorbereite, liebe ich das Maß. Ich kann mir nicht helfen.«
Der Elan der Formulierung war es, dem R. sich auslieferte. Und Friedrich ahmte ihn nach. Beide begannen, sich in Widersprüchen zu überbieten. Von beiden konnte man damals eine Äußerung hören, die zu jener Zeit verblüffend war und die heute fast selbstverständlich klingt: »Der Zar ist kein Herr mehr, er ist ein Bourgeois. Mit ihm beginnt in Rußland das demokratische Zeitalter, das Zeitalter einer kleinbäuerlichen Demokratie – und ihr werdet sehen, Savellis Freunde werden sie fortsetzen. Wenn der Zar uns nicht aufhängt, werden sie es tun.« Es war, als ob R. es sich vorgenommen hätte, Friedrichs Pathos, seine romantische Begeisterung für alle Requisiten geheimen Verschwörertums planvoll zu zerstören. In R.s Gesellschaft bekam sogar die Gefahr einen lächerlichen Zug. »Es ist nicht zu leugnen«, sagte er in den Sälen, in denen es nach Bier, Pfeifentabak und Schweiß roch, »daß man leichter für die Massen sterben kann als mit ihnen leben.« Dann trat er auf das Podium, forderte eine schärfere Haltung der Partei, bedrohte die herrschende Klasse, schrie nach Blut und rief: »Es lebe die Weltrevolution!«
Der Polizeikommissär pfiff, die Beamten stürzten in den Saal, die Versammlung war aufgelöst. Im Nu verschwand R. Den Fäusten der Polizisten setzte er sich nicht aus.
Es scheint, daß Friedrich einen andern Weg genommen hätte, wenn er nicht R.s Freund geworden wäre. Denn schließlich war es R., der Friedrich veranlaßte, nach Rußland zu gehn, der den Ehrgeiz des Jüngeren weckte, den naiven Ehrgeiz, beweisen zu wollen, daß man kein »feiger Intellektueller« war. Es kam aber auch noch etwas anderes hinzu.
Ich habe den Verdacht, daß Friedrichs freiwillige Fahrt nach Rußland, die schließlich mit einem Zwangsaufenthalt in Sibirien endete, die törichte Folge einer törichten Verliebtheit war, die er damals für aussichtslos hielt und deren Wichtigkeit er selbstverständlich übertrieb. Aber uns steht nicht das Recht zu, nach den privaten Gründen einer Tat zu forschen, die Friedrich im Dienst seiner Idee vollbringen wollte. Wir begnügen uns mit der Aufzeichnung einiger Ereignisse.
IX
An die Frau im Wagen dachte er nicht mehr – oder er bildete sich ein, daß er sie vergessen hatte. Aber durch einen Zufall sah er sie eines Tages wieder – und er erschrak. Denn es war wie die Begegnung mit einem lebendig gewordenen Bild, das man aufbewahren ließ in einem bestimmten Saal eines bestimmten Museums, oder wie die Begegnung mit einem vergessenen Gedanken, der in einer tieferen, verhüllten Region der Erinnerung geruht hat. Er wußte nicht mehr, wer sie war, als sie ihn in einem Korridor der Universität nach dem Hörsaal 24 fragte. Er erkannte sie erst, nachdem sie verschwunden war. Wie ein ferner Stern hatte sie einige Sekunden gebraucht, um seine Netzhaut zu treffen. Er folgte ihr. Im verdunkelten Raum las jemand über irgendeinen Maler, zeigte jemand irgendwelche Lichtbilder, und die Dunkelheit war wie ein zweiter, enger Raum im Saal. Sie schloß gleichsam dichter sie und ihn zusammen ein.
Er wartete. Er hatte kein Wort gehört, kein Bild gesehen. Er sah, daß die Tür aufging und daß sie den Saal verließ.
Er ging hinter ihr in einer Distanz, die ihm durch die Anbetung vorgeschrieben und zugemessen zu sein schien. Er hatte Angst, daß eine Seitengasse sie verschlucken, ein Wagen sie entführen, ein Bekannter sie erwarten könne. Sein zärtliches Auge erhaschte den fernen braunen Schimmer ihres Profils zwischen dem Pelzrand des Kragens und dem dunklen Hut. Der gleichmäßige Rhythmus ihrer Schritte teilte dem weichen Stoff der Jacke, den Hüften und dem Rücken zarte Wellenbewegungen mit. Vor einem kleinen Laden in einer stillen Seitengasse blieb sie stehen und legte eine zögernde, nachdenkliche Hand um die Klinke. Sie trat ein. Er ging näher. Er sah durch die Scheibe. Sie saß am Tisch, wandte ihm das Gesicht zu und probierte Handschuhe. Sie hatte die Linke aufgestützt, ihre Finger waren aufgerichtet in geduldiger Erwartung. Sie streifte das neue Leder über, schloß die Hand zur Faust und öffnete sie wieder, strich mit der rechten Hand zärtlich über die linke und entfaltete das ganze reizvolle, spannende Spiel der Gelenke und Finger.
Sie verließ den Laden. Er hatte keine Zeit mehr, sich zu entfernen. Ihr erster Blick fiel auf ihn, und da er unwillkürlich den Hut zog, blieb sie stehen, als wollte sie ihn erkennen, als dächte sie nach, ob sie das gleichgültige Lächeln aufsetzen sollte, das man den Bekannten widmet, die man vergessen hat. Endlich, da er sich nicht rührte, wandte sie sich zum Gehn. Er trat einen Schritt näher. Sie wurde sichtlich verlegen. Die Lust zu fliehen ergriff ihn zugleich mit der Furcht vor der Lächerlichkeit. Die Überlegung, daß er im nächsten Augenblick etwas sagen müsse, wurde überholt von dem stillen Eingeständnis, daß er nichts zu sagen wisse. Das weiche Oval des braunen Gesichts verwirrte ihn in der Nähe; wie der erschrockene, dunkle Blick und die zarte, bläuliche Haut der Lider; und selbst das schmale Päckchen, das sie in der Hand hielt. Wenn sie nur nicht fortwährend lächeln wollte, dachte er. Ich muß sie sofort darüber aufklären, daß ich nicht zu ihren Bekannten gehöre. Also sagte er, den Hut in der Hand:
»Ich kann nichts dafür, daß Sie erschrocken sind. Die Situation ist stärker gewesen als ich. Ich bin Ihnen gefolgt ohne eine Absicht. Sie haben den Laden früher verlassen, als ich berechnen konnte. Ich habe Sie gegrüßt, ohne Sie zu kennen. Ich habe Sie also irregeführt,