VII
In jener Zeit entwickelte sich zwischen Friedrich und mir ein merkwürdiges Verhältnis. Ich möchte es eine Vertraulichkeit ohne Freundschaft nennen oder eine Kameradschaft ohne Liebe. Und selbst die Sympathie, die uns später verband, war nicht am Anfang vorhanden gewesen. Sie entstand aus der Aufmerksamkeit, die wir eines Tages einander zuzuwenden begannen, und aus dem Mißtrauen, bei dem wir uns gegenseitig ertappten. Schließlich fingen wir an, einander zu achten. Das Vertrauen wuchs langsam, wurde von den Blicken genährt, die wir, fast ohne es zu wissen, in der Gesellschaft der andern austauschten, und weniger von den Worten, die wir wechselten, als von dem Schweigen, in dem wir oft miteinander saßen und herumwanderten. Hätte unser Leben nicht einen so verschiedenen Lauf genommen, Friedrich wäre vielleicht mein Freund geworden, wie Franz Tunda es geworden ist.
Es dauerte lange, ehe Friedrich sich entschloß, Savelli, der damals noch in Wien lebte, aufzusuchen. Er fürchtete sich. Er glaubte, daß er vorläufig noch die Wahl hätte zwischen dem, was er die »Askese des Revolutionärs« nannte, und der »Welt«, dem vagen, romantischen Begriff aus Freuden, Kämpfen, Triumphen. Er haßte schon die Einrichtungen dieser Welt, aber er glaubte noch an sie.
Die schön geschwungene Rampe der Universität erschien ihm immer noch nicht – wie mir – als die Festungsmauer der nationalen Burschenschafter, von der alle paar Wochen einmal Juden oder Tschechen hinuntergeworfen wurden, sondern als eine Art Aufgang zu »Wissen und Macht«. Er hatte die Achtung des Autodidakten vor Büchern, die noch größer ist als die Verachtung der Bücher, die den Weisen auszeichnet. Wenn er in einem Katalog blätterte, vor den Schaufenstern der Buchhandlungen stehenblieb, in den stillen, sacht verstaubten Räumen der Bibliothek saß, die dunkelgrünen Rücken unzähliger Bücher in den hohen und breiten Regalen ansah, die militärischen Reihen grüner Lampenschirme auf den langen Tischen, die tiefe Andacht, die alle lesenden Menschen in der Bibliothek frommen Betern in einer Kirche ähnlich machte, ergriff ihn die Angst, daß er das »Wichtigste« nicht wisse und daß ein Leben zu kurz sei, um es zu erfahren. Er las und lernte hastig, ohne System, verschiedenen Neigungen folgend, von einem Titel angezogen oder von der Erinnerung, ihn schon einmal gehört zu haben. Er schrieb Hefte voll von Betrachtungen, die er für »fundamental« hielt, und war kaum zu trösten, wenn ihm ein Satz, ein Datum, ein Name entfallen war. Er hörte alle notwendigen und überflüssigen Vorlesungen. Man konnte ihn immer im Hörsaal sehn, immer in der letzten Bank, die gewöhnlich auch die höchste war. Von hier aus übersah er die gebeugten Köpfe der Hörer, die aufgeschlagenen weißen Hefte, die winzigen, verschwimmenden Stenogramme. Der Professor hatte durch die Entfernung gewissermaßen seine private Menschlichkeit verloren, war nichts anderes mehr als ein Mittler der Weisheit. Aber Friedrich blieb einsam. Um ihn lauter Gesichter, in denen nichts anderes zu sehen war als Jugend. Man konnte zur Not die Rassen unterscheiden. Die sozialen Unterschiede erkannte man nur an sekundären Merkmalen. Die Wohlhabenden hatten manikürte Fingernägel, Krawattennadeln, gutgeschnittene Anzüge. Ringsum eine stocktaube, dumpfe Heiterkeit.
Nur in den Augen einiger jüdischer Studenten glänzte eine kluge, eine schlaue oder auch eine törichte Trauer. Aber es war die Traurigkeit des Bluts, des Volkes, dem Individuum vererbt und von ihm ohne Risiko erworben. Ebenso hatten die andern ihre Heiterkeit ererbt. Nur Gruppen unterschieden sich voneinander durch Bänder, Farben, Gesinnungen. Sie bereiteten sich auf ein Leben in Kasernen vor, und jeder trug schon sein Gewehr, man nannte es »Ideal«.
Wir hatten damals einen gemeinsamen Bekannten namens Leopold Scheller – es war übrigens der einzige Student, mit dem Friedrich verkehrte. Er verbarg nichts, er sagte immer die Wahrheit, allerdings immer die eine, die er kannte, und vertrug alles, was man ihm an den Kopf warf. Er glaubte nicht, es könnte etwas persönlich gemeint sein. Wenn jemand nach seiner Meinung durch einen Blick oder durch ein absichtliches oder zufälliges Anstoßen in der Aula seine Ehre beleidigt hatte, so war es auch nicht so sehr seine persönliche wie die Ehre der Verbindung, der er angehörte. Wenn Friedrich sich langweilte, ging er zu Scheller, der die Langeweile nicht zu kennen schien. Er beschäftigte sich immer mit seiner Weltanschauung.
Einmal überraschte er Friedrich mit der Mitteilung, daß er sich verlobt habe. Und sofort griff er nach der Hosentasche, wo er sonst seine Pistole in einem Lederetui zu tragen pflegte. Diesmal entnahm er ihr eine Brieftasche und der Brieftasche eine Photographie. Dabei bemerkte er Friedrichs Verwunderung und sagte: »Meine Braut hat mir die Pistole abgenommen. Sie erlaubt es nicht.«
Die Photographie stellte ein junges, hübsches Mädchen von etwa achtzehn Jahren dar. Es hatte schwarze Augen und Haare. »Aber sie ist ja gar nicht blond!« sagte Friedrich.
»Sie ist eine Italienerin«, antwortete Scheller gleichmütig, als wäre er nie ein Germane gewesen. »Aber«, beharrte Friedrich, »wie kommen Sie zu einer Italienerin?«
»Gegen die Liebe ist nichts zu machen«, begann Scheller, »sie ist die höchste Macht auf Erden. Übrigens werde ich aus ihr schon eine Deutsche machen.«
»Und seit wann kennen Sie die Dame?«
»Seit vorgestern«, antwortete Scheller strahlend, »ich habe sie im Volksgarten angesprochen.«
»Und schon verlobt?«
»Ich kenne nichts anderes, entweder – oder.«
»Und Ihre Verbindung?«
»Ich trete aus. Weil es ihr nicht paßt. Gestern haben wir uns verlobt. Ich habe heute brieflich bei Ihrem Vater angehalten. Er ist Bankbeamter in Mailand. Meine Braut ist hier bei Verwandten. In zwei Monaten heiraten wir. Wie gefällt sie Ihnen?«
»Außerordentlich!«
»Nicht wahr? Sie ist schön! Sie ist unvergleichlich!« Und er legte ein Stückchen Seidenpapier über die Photographie und verbarg sie wieder in der Revolvertasche.
Obwohl Schellers Glück Friedrich nicht dauerhaft schien und er für seinen Freund eine Enttäuschung befürchtete, fühlte er doch in der Nähe des Verliebten den wärmenden Abglanz einer nie gekannten Seligkeit, und er sonnte sich in der Liebe des andern, als läge er auf einer fremden Wiese. Scheller war ein vollkommen glücklicher Mensch. Aus Mangel an Verstand war er nicht einmal imstande zu zweifeln – ein Zustand, der sonst die Liebe zu begleiten pflegt wie der Schatten das Licht. Ungehemmt, wie er seine Seligkeit empfing, strömte er sie auch wieder aus. Es war eine Seligkeit, mächtiger als Scheller selbst. Friedrich beneidete ihn und genoß gleichzeitig die Trauer über seine eigene Einsamkeit, jetzt bildete er sich ein, daß sein ganzes Leben einen Sinn und ein Gesicht bekäme, wenn er die Frau träfe, die er suchte. Obwohl ihm Schellers Methode, ein Mädchen im Park zu finden, töricht erschien, begab er sich doch ins Grüne, das nicht die Farbe der Hoffnung, sondern die der Sehnsucht ist. Es wurde übrigens alles schon herbstlich und gelb. Und in dem Maß, in dem der Winter sich der Welt näherte, wuchs die Ungeduld seines suchenden Herzens.
Er begann, mit verdoppeltem Eifer zu lernen. Sobald er aber ein Buch weglegte, erschien es ihm töricht wie Scheller. Die Wissenschaften lagen über den wichtigen Dingen wie die Erdschichten um den geheimen, ewig brennenden, nie geschauten und bis ans Ende der Welt nicht zu enthüllenden Erdkern. Man lernte Beine amputieren, die gotische Grammatik, das Kirchenrecht. Man hätte ebensogut Möbel packen, Holzbeine drechseln und Zähne ziehn lernen können. Und selbst die Philosophie log sich selbst Antworten vor und legte den Sinn der Frage nach der Antwort aus, die ihr gelang. Sie glich einem Schüler, der nach dem falschen Resultat seiner mathematischen Arbeit die Aufgabe verändert, die ihm gestellt war.
Es dauerte nicht lange und Friedrich fing an, ein seltener Gast in den Hörsälen zu werden. »Nein«, sagte er, »ich unterhalte mich lieber mit Grünhut. Ich habe