Eines Abends, während er schrieb, kam Hilde ins Kaffeehaus. Er spielte ihr und sich selbst Gleichgültigkeit vor. Sie sollte nicht glauben, daß er ein bürgerlicher Porträtmaler war. Nein, er hatte zu arbeiten an der Erlösung der Welt. Keine geringere Sache. Er spürte einen bösen Triumph darüber, daß sie ihre Jugend, ihre Eleganz, ihre Schönheit in den grauen, kleinen Raum gebracht hatte.
Hilflos saß sie neben ihm, seinen großen Brief in der Hand. Sie hatte sich vorgenommen, über jeden Satz mit ihm zu sprechen. Er bat sie zu warten, er müßte einen Artikel schreiben. Fulminant, dachte er, was ich schreibe; durch die Aussicht angeregt, ihr vorzulesen, wenn sie ihn bitten würde. Sie wartete. Er war fertig. Es fiel ihr nicht ein zu fragen. Sie dachte nur an den Brief. Fast sanft begann sie: »Ich habe den Brief mitgebracht.« Ihre Sanftheit reizte ihn. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »diesen Brief habe ich in einem wahnsinnigen Zustand geschrieben. Betrachten Sie ihn nicht mehr als einen Brief, der an Sie gerichtet ist.« Sie hielt noch das Papier in der Hand. Er griff danach und begann, es zu zerreißen. Sie hätte seine Hand festhalten wollen und schämte sich. Ihre Augen füllten sich mit warmen Tränen. Ich weine schon wieder, dachte sie, entrüstet über ihren Rückfall in eine überholte Vergangenheit.
Es war nur ein kleiner Augenblick, er sah nicht auf sie. Er spielte mit Überzeugung einen Harten, Hochmütigen, und seine Hände zerrissen mechanisch den Brief. Jetzt waren es fünfzig Papierchen. Sie lagen wie kleine, weiße Leichen auf der dunklen Marmorplatte. Der Kellner kam, wischte sie mit der Hand in die andere und trug sie weg. Begraben, fiel ihr ein.
Er wollte etwas Versöhnliches sagen. Nichts Versöhnliches kam. Über ihnen beiden waltete schon das ewige Gesetz, das die Mißverständnisse zwischen den Geschlechtern regelt.
Schon stand sie wieder, fremd in diesem Café aus einer anderen Welt. Schon ging sie. Er sah sie noch einmal durch das Fenster vorbeigehn. Und er wußte nicht mehr, daß nur eine Scheibe sie von ihm trennte. Ihm war, als gäbe es überhaupt keine Möglichkeit mehr, dieses Café zu verlassen. Als wäre die Tür in diesem Augenblick vermauert worden und sein Platz für ewige Zeiten hier, an diesem Tisch. Er rührte sich nicht. Fünf Minuten später trat er hinaus. Sie war nicht mehr zu sehn.
XI
Von nun an dachte er daran, eine »weite und gefährliche Reise« zu unternehmen. Ein Schmerz ohne Grund begleitete seine Arbeit, gab seinem Eifer eine goldene Wärme, seinen Worten einen wehen Nachhall und zeichnete die ersten scharfen Züge in sein Angesicht. Er schien schweigsam geworden zu sein. Sein heller Blick kam aus einer weiten Ferne und sichtete ein weites Ziel. Er wollte wegfahren und nicht mehr zurückkehren.
»Ich bin ein Armer«, sagte er einmal zu R., »auf der Seite der Armen. Die Welt ist nicht gut zu mir, ich will nicht gut zu ihr sein. Ihre Ungerechtigkeit ist groß. Ich leide unter ihrer Ungerechtigkeit. Die Willkür tut mir weh. Ich will den Mächtigen weh tun.«
»Wenn ich gerecht sein wollte, wie z. B. Savelli«, antwortete R., »würde ich Ihnen sagen, daß Ihr Platz unter den Heiligen der katholischen Kirche ist und nicht unter den anonymen Helden der Partei. Ich habe mit T. über Sie gesprochen. Wir sind uns darüber einig geworden, daß Sie im strikten Sinne des Wortes unzuverlässig sind. Wenn Sie persönlich enttäuscht sind, möchten Sie die Minister aufhängen. Sie gehören zu den unsterblichen europäischen Intellektuellen. Augenblicklich haben Sie ein Herz für das Proletariat, mit dem Sie verkehren. Aber warten Sie, Sie werden in den traurigen Augen der jungen Männer, vor denen Sie jetzt Vorträge halten, eines Tages den blanken Haß der menschlichen Kanaille sehn. Haben Sie schon je daran gedacht? Sooft mir ein Arbeiter die Hand gibt, fällt es mir ein, daß seine Hand mich einmal unbarmherzig schlagen könnte wie die Hand jedes Polizisten. Ihre Methode ist falsch, es ist meine eigene auch, deshalb darf ich es Ihnen sagen, und deshalb dürfen Sie mir es glauben. Uns würde die Erkenntnis mehr nützen, daß die Armen nicht besser sind als die Reichen, die Schwachen nicht edler als die Starken und daß im Gegenteil erst die Macht die Voraussetzung einer Güte sein könnte.«
»Ich will wegfahren«, sagte Friedrich.
»Ganz richtig«, erwiderte R., »Sie müssen sich der Gefahr aussetzen. Gehen Sie nach Rußland. Auf die Gefahr hin, nach Sibirien zu kommen. Auch T. war dort, K. war dort, ich war dort. Lernen Sie das stärkste und dumpfste Proletariat der Welt kennen. Sie werden sehn, daß es durch das Unglück keineswegs edel geworden ist. Es ist grausam von mir, einem jungen Mann diesen Rat zu geben, aber Sie werden geheilt werden von jeder Illusion. Von jeder. Und Sie werden sich nie mehr verlieben, um nur ein Beispiel zu nennen.«
Er begann seinen nächsten Vortrag mit der Mitteilung, daß er sich entschlossen habe wegzufahren, daß ihn ein anderer vertreten werde. Er erblickte in einer der letzten Reihen Hilde in einem betont unscheinbaren Mantel. Welch eine Maskerade, dachte er zornig. Er glaubte, an ihrer Anwesenheit schuldig zu sein. Er fühlte sie wie einen Verrat, den er an den Menschen beging, vor denen er sprach. Er begann, den Leitartikel eines bürgerlichen Blattes vorzulesen. Es war die Rede vom Willen der Zentralmächte, der Welt den Frieden zu sichern, und von den Anstrengungen eben dieser Welt, in einem Krieg zu verbrennen. Er zog ein russisches Blatt hervor, ein französisches, ein englisches, und er bewies seinen Zuhörern, daß alle das gleiche schrieben. Tief über dem Pult, vor dem er stand, hing die Lampe und blendete ihn. Wenn er in den kleinen Raum blicken wollte, sah er die Wände in einem grauen Dunkel. Sie verloren ihre Festigkeit. Sie wichen wie Schleier immer weiter zurück, von dem Klang seiner Worte auseinandergeweht. Gesichter, die ihm aus der Dunkelheit entgegenleuchteten, verzehnfachten sich. Er horchte auf seine eigene Stimme, auf den klingenden Nachhall seines Wortes. Er stand da wie am Rande eines dunklen Meeres. Die besten Worte kamen ihm aus der Erwartung der Hörer entgegen. Es war ihm, als spräche er und hörte gleichzeitig, als erzählte er und ließ sich gleichzeitig erzählen, als klänge er und hörte gleichzeitig klingen.
Es war noch einen Augenblick still. Die Stille war eine Antwort. Sie bestätigte ihm seine Kraft wie ein stummes Siegel.
Als er wieder unten stand, war Hilde verschwunden. Er ärgerte sich, daß er sie gesucht hatte. Ein paar Leute drückten ihm die Hand und wünschten ihm gute Reise.
XII
Für morgen abend war seine Abreise festgesetzt. Er hatte noch mehr als vierundzwanzig Stunden Zeit. Savelli hatte ihm Geld, Briefe und Aufträge mitgegeben. Er sollte sich zuerst bei Frau K. melden und bei ihr wohnen. Bei der ersten sicheren Gelegenheit, die sich ergeben würde, mit einem Teil des Geldes zurückkommen, das man hier dringend erwartete. Er hatte einen Koffer voller Zeitungen, sie lagen in den Taschen, in den Ärmeln, im Unterfutter fremder Anzüge, die man ihm mitgegeben hatte.
Er fürchtete sich nicht. Ein Strom Ruhe erfüllte ihn wie einen Sterbenden, der ein langes und gerechtes Leben hinter sich weiß. Er konnte untergehn, namenlos, vergessen, aber nicht spurlos. Ein Tropfen im Meer der Revolution.
»Ich habe einen herzlichen Abschied von R. genommen«, erzählte er mir. »Dieser R., den alle unzuverlässig nennen, den eigentlich niemand leiden kann, weiß mehr als die andern. Er vergißt nicht die Gebrechen der Menschen über der Gesinnung. Er kennt die verborgene Vielfalt, aus der wir alle zusammengesetzt sind. Man traut ihm nicht ganz, denn er ist vielseitig. Er traut sich übrigens selbst nicht, seiner unbestechlichen Vernunft nicht.«
Er ging zu Grünhut Abschied nehmen.
»Wohin reisen Sie?«
Es war ein paar Augenblicke still. Grünhut ging zum Fenster. Es war, als sähe er nicht auf die Straße, sondern nur in die Fensterscheibe, die aufgehört hatte, durchsichtig zu sein.
»Was fällt Ihnen ein?« schrie Grünhut mit weinerlicher Stimme.