Mitten in seine kreisende Sorge schossen Heldenträume, klang der Ruf seiner Sendung, hob ihn roter Jubel empor. Günther und Klitsche und achtzehn Arbeiter waren tot, vergeblicher Erfolg acht eifervoller Monate. Mißbrauchtes Werkzeug fremder Lust war Theodor gewesen. Wofür? Verantwortung schuldete er nur sich selbst. Er trug sie leicht, wenn sein Ziel erreicht war; er ging an ihr zugrunde, wenn er unterwegs blieb.
Er durfte nicht mehr innehalten. Aber er hatte sich Zeit gegeben, ein Jahr wenigstens, noch spann er seine Fäden, noch bargen sich vor ihm Menschen und Dinge. Man hatte ihn abseits gestellt, sein Eifer hatte ihn verraten, er hätte bedachtsamer Wege wählen müssen. Jetzt tat er, was hundert andere taten: Vorträge halten, Broschüren verteilen. Längst war er nicht in München gewesen…wer weiß, neue Menschen führten, und der Zufall brachte einen anderen Klitsche ans Licht.
Ein Jahr noch – und er wäre vielleicht reich, und Geld erwarb ihm alles, wozu der Eifer nicht reichte. Aber hart vor ihm lag der 2. November. Die Nähe des Tages verwirrte ihn, nahm seinen Entschlüssen Besonnenheit. Unter ihm schwankte der Boden, sein Weg führte nicht mehr empor.
Halbe Tage war er unterwegs zwischen Potsdam und Berlin. In seinem Büro las er den Einlauf, zu Trebitsch ging er. Der war ein Beispiel zielsicherer Ruhe. Trebitsch benahm sich, als stünde er abseits. So mußten die Menschen sein, die den 2. November schmiedeten, so harmlos und sanft. Der Vollbart gab ihm das Aussehen des ungefährlich Würdevollen, des Menschen der Idee, des ahnungslosen Gelehrten. Nur ein achtloses Wort verriet ihn. Er sah jede Veränderung, wie Theodor, wenn er vor der Front seiner Kompanie stand. Er sprach von der »anderen Methode«, die Arbeiter zu behandeln. Vielleicht ging es in Zukunft um die Eroberung des linken Radikalismus. Die Parole war: Vorsicht; Näherkommen, nicht Herausforderung.
Geborgen vor gefährlicher Entdeckung, lag in Theodor der alte, undeutlich und behutsam geformte Wunsch, eine Brücke zu den anderen zu schlagen. Verrauscht waren die klingenden Worte des Eides, ihre Fruchtbarkeit verblaßt, ihre Drohung unwirklich. Was geschah einem Mächtigen? Unterwegs noch drohte Gefahr – ehe er bei den anderen war. Drohte sie nicht auch hier? Die anderen waren leichter zu fassen. Ehrlichkeit vermutete er bei ihnen. Hier war Selbstsucht und Sorge um Gehalt, Stellung, Weib und Kind. Dort lebten die Goldscheiders, die Gekreuzigten, die Güte predigten und Neues Testament.
Nun ist die Gefahr gering. Immer bleibt eine Tür offen; heute kann Theodor selbständige Versuche machen. Wem schuldet er Rechenschaft? Wer verdächtigt ihn? Er kann alles verantworten. Daß er Unternehmungen geheimhält, deren Erfolg im Geheimnis begründet ist, muß selbstverständlich erscheinen. Er kann es wagen.
Was war Sozialismus? Ein Wort. Man muß nicht daran glauben. Woran glaubte er heute? Drüben war er wertvoll. Die anderen breiteten die Arme aus. Er kannte die Kulissen.
In den wachen Nächten formte sich sein Plan, nahm Leben an und drängte zur Erfüllung. Theodor hatte keine Zeit mehr. Die ersten Schritte mußte er bedächtig tun.
War er ein Verräter? Er ist es nicht. Er will wirklich nur die anderen aushorchen, seine Spione beaufsichtigen. Er durfte nicht lange nachdenken. Überlegung schwächt Entschlüsse. Es war keine Zeit.
Flammender wurden täglich die Titel über den Zeitungsberichten. Schon streikten die Metallarbeiter in Sachsen. Man sprach von Zügen, die irgendwo aufgehalten worden.
Doppelte Bereitschaft war in der Kaserne befohlen.
XV
Unter den unzuverlässigen und verdächtigen Spitzeln, die Theodor abgeschafft hatte, befand sich Benjamin Lenz. Er lieferte doppelte Berichte: an Trebitsch und an Theodor. Von beiden erhielt er Geld. Seine Adresse kannte Theodor.
Benjamin Lenz, ein Jude aus Lodz, war im Krieg von einer Kundschafter-und Nachrichtenstelle als Spion verwendet worden. Sein Angesicht verriet ihn: seine starken Backenknochen warfen Schatten gegen die Augenhöhlen, der untere Stirnrand mit den Brauen sprang vor, und so lagen die kleinen schwarzen Augen wie in Talkesseln, ringsum geschützt, und die Richtung der Blicke war schwer zu erkennen, denn sie kamen aus entfernter Tiefe. Kurz und breit war das Kinn und die Nase flach. Aber dieser Schädel, der zu einem gedrungenen Rumpf gepaßt hätte, saß auf dünnem Hals, zwischen abschüssigen, schlanken Schultern. Benjamin Lenz hatte schmale Knöchel, dünne Handgelenke, lange, nervöse Finger.
Mit der heimkehrenden Armee war er nach Deutschland gekommen, durch viele Städte gewandert. Er hatte Empfehlungen von der Armee. Polizisten, mit Bosheit gegen solche aus dem Osten geladen, zwinkerten mit verständnisvollem Auge Benjamin zu. Ihre Gunst genoß er und kassierte unbehelligt im wandernden Panoptikum, drehte den Leierkasten des Karussells, fälschte Berichte für auswärtige Missionen, stahl in Amtsstuben Papiere und Stempel, spionierte in Oberschlesien, ließ sich mit Untersuchungshäftlingen einsperren und horchte sie aus und wartete auf »seinen Tag«.
Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. Er haßte die europäische Dummheit. Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte seine Kraft an ihnen. Er verriet die Organisationen an die politischen Gegner; den französischen Gesandtschaften verriet er Gelogenes, Wahres durcheinander; er freute sich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte; über das dumme Erstaunen eingebildeter Diplomaten, kindischer, zahnloser Geheimräte, bestialischer Hakenkreuzler; freute sich, daß sie ihn nicht erkannten. Er irrte sich selten. Er hatte nicht gewußt, daß Klitsche tot war und ein anderer an seiner Stelle saß. So brachte ihn ein lange erfolgreich geübtes Manöver mit den Duplikaten, die Theodor entdeckte, in Verdacht. Er verschmerzte den Fall. Er arbeitete mit falschem Material für Trebitsch. Und sogar diesen übertraf er. Er spielte den dummen kleinen Spitzel. Aufträge ließ er sich einigemal erläutern. Verwickelte Geschäfte lehnte er ab. Er gab die Rolle eines Menschen, dessen Verstand gerade noch zur Erkenntnis seiner eigenen Beschränktheit ausreicht.
Und er wartete.
An »seinem Tag« mußte in ganz Europa der schlummernde Wahnsinn zum Ausbruch gekommen sein. Also vergrößerte er Verwirrung, steigerte Freude am Blut, Lust am Töten, verriet einen an den anderen, beide dem dritten und diesen auch. Er verdiente Geld. Aber er lebte in einem kleinen Zimmer eines schmutzigen Hotels. In geheimnisvollen Kellerlokalen aß er, mit Bettlern und Glühlampendieben. Er sparte für seinen Bruder, seine zwei Schwestern, seinen alten Vater. Der Vater war ein alter Feldscher in Lodz mit einer kleinen jüdischen Barbierstube. Die Schwestern Benjamins mußten eine Mitgift haben. Dem Bruder, der Chemie studierte, gab er den größten Teil seines Verdienstes. Dieser Bruder sollte einmal eine eigene Fabrik gründen können. Niemals kam Benjamin mit ihm zusammen. Niemals schrieb er nach Lodz an seinen Vater. Er hatte keine Zeit, Benjamin Lenz; er arbeitete für seinen Tag.
Theodor hatte ihn nicht nur wegen der Duplikate abgeschafft. Seine Klugheit roch er. Er fühlte das Judentum Benjamins; wie ein Jagdhund überall Wild wittert, so witterte Theodor Juden, wo er einer Überlegenheit begegnete.
Lenz kam eine halbe Stunde später, er ließ Theodor warten, er ließ jeden warten, der ihn brauchte. Aber Theodors Wunsch zu erfüllen, weigerte er sich. Er weigerte sich immer. Theodor Lohse zu den anderen führen? Den Genossen Trattner? Sie kannten ihn, kannten das Porträt Theodors. Klaften hatte ihn noch einigemal gezeichnet: naturgetreu.
Jene Affäre Klaften hatte Theodor begraben. Er fragte, wie sie ausgefallen sei. »Überhaupt nicht«, sagte Lenz. Thimme, der junge Attentäter,