Man aß in einem Zimmer, dessen Tür zur Küche führte. Man aß an einem runden kleinen Tisch, jeden Tag ließ Erna neue Blumen bringen.
Mit großer Sorgfalt las sie alle Zeitungen, die sie früher nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte. Seitdem ihr Ruhm verfiel, suchte sie nach den Neuigkeiten der Welt, der versunkenen Welt, mit Qual und Neugier. Da sie sich vorläufig ohne Ziel sah, schien es, daß ihr Verstand sich verringerte. Er war ein Apparat, der nur unter bestimmten Bedingungen funktionierte.
Erna wurde empfindlich, mißtrauisch, weinerlich, eine klägliche kleine Frau. Sie kombinierte immer noch scharf, aber falsch. Sie verdächtigte Arnold, daß er nicht genug für sie arbeite. »Es wäre seine Pflicht«, sagte sie, »mich jeden Tag der Welt ins Gedächtnis zu rufen. Er aber ist froh, daß ich nicht spiele.« Kam er nach Haus, erzählte er, daß er in einer Gesellschaft gewesen sei, so fragte sie: »Hat man von mir gesprochen?« Haarklein mußte Arnold berichten, bei welcher Gelegenheit, warum, wieso die Rede auf Erna gekommen wäre. Er mußte die Kleider der Frauen schildern, seine Gespräche wörtlich wiedergeben. War sie nicht einmal auch von ihrer Mutter ausgefragt worden?
Ihr Gebrechen heilte nicht. Wenn es kalt war, wurde es schlimmer. Man schickte sie im Winter nach Nizza. Allein wollte sie nicht fahren. Arnold mußte sie begleiten. Er bekam sechs Wochen Urlaub. Als sein Urlaub zu Ende war, zwang sie ihn, bei ihr zu bleiben. Sie machten Schulden. Der alte Zipper schickte noch einmal Geld.
Ein halbes Jahr später traf ich Arnold in Monte Carlo. Er spielte und gewann. Es waren keine großen Summen. Aber er konnte mit seiner Frau von den Gewinsten leben. Er gewann jeden Tag ein paar hundert Francs.
»Ich habe gar kein System«, sagte Arnold, »ich gewinne, einfach, weil ich bescheiden bin. Ich gehe jeden Vormittag hierher, langsam, gedankenlos, wie man in ein gleichgültiges Amt geht, wo einem nichts zustoßen kann. Jeden Abend um sechs Uhr löse ich die Marken ein. Nie waren es mehr als tausend Franken. Manchmal sind es hundert, manchmal dreihundert, manchmal siebenhundertfünfzig.«
»Was macht Erna?«
»Es geht immer besser. Sie nimmt zu und sorgt schon wieder fürs Magerwerden. Sie ist entschlossen, wieder zu spielen.
Ich glaube aber nicht daran. – – Sie ist mir übrigens ganz gleichgültig.«
»Gleichgültig?«
»Ja, warum nicht? Ich bin nicht verliebt. Wir leben wie ein altes Ehepaar. Ich bin nur zu faul, um mich von ihr zu trennen. Ich habe mich schon so daran gewöhnt, an diesen Spielsaal, an den täglichen Autocar nach Nizza und zurück, an Erna, die beim Fenster sitzt oder am Wasser. Ich lebe nicht schlecht.«
Ich fuhr weg, Arnold versprach mir zu schreiben. Er schrieb nicht mehr in den nächsten Monaten.
Einmal las ich in einer Zeitung, daß Erna wieder zum Film zurückgekehrt sei. Sie werde nach Amerika gehen.
Einige Monate später sah ich einen amerikanischen Film, in dem sie spielte. Es war ein »Spielfilm«, wie die technische Bezeichnung lautet. Erna war eine Frau in reifen Jahren, Rivalin einer Sechzehnjährigen in dem Kampf um einen Mann in den Vierzigern. Die Sechzehnjährige war ihre Nichte. Diese hatte die meisten Chancen, weshalb Erna Sympathien gewann. Sie siegte am Schluß. Sie hatte klug, aufrichtig und überlegen zu sein, ein wenig hart, voll bitterer Kenntnis des Lebens, skeptisch in bezug auf Männer, aber mit einer genügend starken Quantität Herz begabt, um in der Einsamkeit traurig zu werden; jedoch wieder nicht so sentimental, daß sie etwa geweint hätte. Man sollte vielmehr wissen, daß jede andere an ihrer Stelle geweint hätte. Sie aber war von jenen, welche die Tränen, wie man sagt, tapfer verschlucken. Im Leben wäre sie freilich von der Sechzehnjährigen verdrängt worden. Denn das Leben ist gerecht und sparsam mit Erfolgen gegen jene, die gezeigt haben, daß sie auch ohne äußeres Glück zu bestehen wissen. Die besondere Filmgerechtigkeit der Vereinigten Staaten aber krönte die Verdienste Ernas.
Ich konnte noch erkennen, wie sie leise hinkte. Das Publikum merkte es gewiß nicht. Wahrscheinlich, dachte ich, wird sie in dem zauberhaften Hollywood eine neue Hüfte aus Platin oder auch aus Alabaster bekommen, damit das schwache Bein in einer zuverlässigen Wurzel hafte. Was konnte man nicht alles in Amerika.
Es tat mir leid, daß ich nicht sehen konnte, wie sie drüben ihre Karriere arrangiert hatte. Dieser Film, den ich jetzt sah, gab mir nur eine ferne Ahnung von allen Experimenten, die ihm vorangegangen waren.
Ich ging noch einmal und noch ein drittes Mal in den Film. Immer wieder schien es mir, daß ich aus einer Szene, aus ihrer Miene, aus ihrer Bewegung mehr erraten könnte, als dieses Drama zu geben hatte. Aber ich erfuhr nichts Neues. Ich prägte mir nur ihr Gesicht ein. Sie sah im Film schön aus, so schön, wie man nur in Amerika sein kann. Sie war so edel, wie man nur in Amerika sein kann, wenn man siegreich ist. Sie war so weiblich, so hilfsbedürftig, so rührend in den paar Minuten, in denen ihr eine unerbittliche Einsamkeit drohte, daß man sie für eine vollkommene Frau hielt.
Plötzlich kam von Arnold eine Postkarte, eine Ansichtskarte aus Lissabon, mit einem Gruß. Nach einigen Wochen kam noch eine Karte, diesmal aus Boston. Nach längerer Zeit erhielt ich eine dritte aus Amsterdam. Was war mit ihm geschehen? Was für ein Schicksal wirbelte ihn so heftig in der Welt herum?
Ich sollte es bald erfahren.
XX
Einige Monate, nachdem ich die letzte Karte Arnolds aus Amsterdam erhalten hatte, fuhr ich nach Wien.
Ich beschloß, das Haus Zipper aufzusuchen, nicht nur, weil mich Arnolds Schicksal interessierte, sondern auch, weil ich mit dem alten Zipper sprechen wollte. Schon sah ich die geräuschvolle Straße wieder, in der sie wohnten, das breite Haus mit der falschen Marmorstukkatur, rechts den »Galanteriewarenladen«, in dessen Schaufenstern alle Gegenstände zum »Luxus« gehörten und alle aus einem anderen Material bestanden, als man auf den ersten Blick glauben mußte. Was wie Krokodilleder aussah, war künstlich verändertes Kalb, Schlangenhaut kam von Eidechsen, Seide war Kunstseide, Saphire waren Glas, goldene Ringe waren Doublé, silbernes Besteck war Alpaka, Stahl war Nickel, Schildpatt war Kautschuk, und selbst das Eisen war nicht echt. Ich sah den alten Photographenkasten an der linken Seite des Eingangs, in dem immer wieder neue Brautpaare ausgestellt wurden. Als ich ihn das letztemal betrachtet hatte, hing noch eine Photographie vom alten Zipper in der Feldwebeluniform da, das letzte Bild aus der Zeit des Krieges – alle andern Uniformen hatte der Photograph entfernt. Der alte Zipper war geblieben, weil der Photograph wahrscheinlich Rücksicht auf einen so würdigen und engen Nachbarn genommen hatte.
Ich sah die kalte Stiege aus Stein, den grünen zerfransten Teppich, der nur bis zum zweiten Stock lief, das Geländer aus Eisen und die bunten Fensterscheiben in den Korridoren, mit den weiß eingelegten nackten Frauen, sogenannten symbolischen Figuren. Ich roch die Düfte der Wohnungen, die man passierte, ehe man zu den Zippers kam, Erbsen, Menschen und Betten, ich sah den Zettel an der Tür der Zippers: Bitte stark klopfen, Glocke funktioniert nicht – seit wieviel Jahren funktionierte sie nicht mehr? –, und das dunkle Vorzimmer, in dem seit meiner frühesten Jugend ein Regenschirm im Ständer lehnte, von dem niemand wußte, wer ihn vergessen hatte. Wir spielten dann mit ihm. Allmählich hatte er seine Haut verloren, man sah sein dürres stählernes Skelett.
Endlich stellte ich mir den alten Zipper vor – den »alten Zipper«. Immer war er für mich alt gewesen, noch als er selbst glaubte jung zu sein. Wie alt war er erst jetzt! Wie grün mußte sein schwarzer Anzug schon geworden sein, wie grau seine weiße Krawatte, wie locker der Elfenbeingriff seines Stockes; wie sanft mußte er jetzt mit seiner Frau umgehen, vielleicht lebten sie zusammen wie ein paar alte Tauben. Sie konnten keine giftigen Pfeile mehr gegeneinander abschießen, das Gift war ungefährlich geworden, oder die Körper waren schon daran gewöhnt. Kam Zippers Bruder aus Brasilien noch zu Ostern? Wohnte der Sekretär Wandl noch im Salon?