Arnold ging also in ein Musikcafé, man brauchte keinen Klavierspieler, aber einen ersten Geiger. Einmal am Abend, Solostück, mit Klavierbegleitung. Ave Maria oder so was. Sie kennen diese Pausen der Andacht, wenn die Leute von Welt verlegen werden und die kleinen Bürger andächtig. Haben Sie schon bemerkt, wie die Leute ihren Kaffee schlürfen, beim Solo? Dann klatschen einige und verlangen zum Ärger der Menschen von Welt noch ein Stück. Der Sologeiger verneigt sich. Er spielt nicht mehr. Er wird nicht für zwei Solos bezahlt. Aber der Kapellmeister gibt ihm einen Wink. Da steht er auf und fängt wieder an. Und nach dem zweiten klatscht man nicht mehr. Das ist selbst dem kleinen Bürger zuviel. Also setzt sich der Solist hin, ein wenig verprügelt.
So ein Solist war also Zipper.
Es wird aber noch romanhafter. – Kommen Sie, wir müssen einen Kaffee trinken, ich kann nicht mehr so viel sprechen. Der alte Johann, der Markör, ist zum ersten Male seit vierzig Jahren in Urlaub gefahren. Ich habe also keinen Kredit. Sie laden mich aber ein.«
Im Kaffeehaus erzählte P. weiter:
»Eines Abends kommt der berühmte Clown Lock nach Nizza ins Café, gerade zum Solo. In der Pause geht er zu Arnold hin und engagiert ihn als Partner. Nun ist Arnold ein echter Musikant. Ich wußte nie, wo ich sein Gesicht hintun sollte. Jetzt weiß ich es: es gehört unbedingt in ein Varieté.«
P. zog eine Brieftasche und entnahm ihr eine Photographie. Es war Arnold. Er trug Pumphosen und ein schmales Jackett und einen hellen steifen Hut mit breiter Schärpe.
»Ein echter Habig!« rief ich aus.
»Oh, sehen Sie!« sprach P. weiter. »Sehen Sie dieses Gesicht! Dieses Gesicht hat zwanzigtausend Ohrfeigen bekommen. Es hat eine hündische Trauer. Es ist so traurig, weil es nicht erzählen kann, wie traurig es ist. Denken Sie an seinen Auftritt. Er kommt auf die Bühne, ahnungslos, er weiß nicht, daß im Parkett das Publikum sitzt. Er ist ein Trottel, er sieht aus wie einer, der nur Essen und Trinken nötig hat, um frohgelaunt zu sein. Er will ein Stück auf der Geige spielen. Aber sobald er spielen will, kommt ein anderer Clown, ein selbstbewußter, auch ein Narr, aber ein Narr mit Ambitionen, ein Narr, der bereits weiß, daß es ein Publikum gibt, einen Direktor, eine Gage. Dieser kluge Narr gibt unserm Arnold eine Ohrfeige. Arnold hatte gerade zwei Bogenstriche gemacht. Aber diese zwei Töne, die er noch hervorbringt, bevor es der andere merkt, sind so klar, so himmlisch, daß es jedem Zuhörer leid tut, daß Arnold nicht weiterspielt. Kennen Sie das? Natürlich. Sie haben es schon gesehen, und nun wissen Sie, daß Arnolds musikalisches Talent gerade noch dazu reicht, diese zwei Töne himmlisch zu spielen.
Das ist der Roman!«
»Ich sehe«, sagte ich, »nichts Romanhaftes darin. – Selbst wenn ich das Leben Arnolds schreiben würde, wäre es kein Roman in diesem Sinn. Ich muß Ihnen übrigens den Vorwurf machen, daß mir dieser Schluß ein bißchen gewollt vorkommt. Ich würde Arnold im Kaffeehaus Sologeiger bleiben lassen. Ich würde ihn auch nicht gesondert von seinem Vater behandeln können.«
»Da haben Sie recht!« rief P. »Die Zippers gehören zusammen. Betrachten Sie diesen Vater. Er ist an Arnolds Unglück schuld, für den Fall, daß Arnold immer noch unglücklich ist. (Aber das wäre Nebensache.) Alle unsere Väter sind an unserem Unglück schuld. Das sind die Väter der Generation, die den Krieg gemacht hat. Sie haben ihre Uhrketten, ihre Eheringe für Eisen gegeben. Ach, was waren sie für Patrioten! Meinem Vater hat nichts so leid getan wie meine Krankheit, die mich gehindert hat, in den Krieg zu gehen. Erinnern Sie sich nur: wer hat im Sommer 1914 vor der serbischen Gesandtschaft protestiert: wir oder unsere Väter? Wer hat die Feinde – allerdings im Kasino – ›umzingelt‹? Am Nachmittag, beim Sechsundsechzig? Sie sind wie ein Ochs verladen worden, und Ihr Vater hat der Mutter gesagt: ›Eine jede Kugel trifft ja nicht.‹ Wenn Ihr Vater auch eingerückt ist, hat er höchstens eine Brücke bei Floridsdorf bewacht.
Erinnern Sie sich nur: Sie kamen zurück, die unseligste aller Generationen der Neuzeit. Was war geschehen? Ihr Vater hat Zeit gehabt, neue Kinder zu zeugen, mit den Mädchen, die eigentlich für Sie bestimmt waren. Kaum waren Sie zu Hause, da saßen die Väter schon wieder dort, wo sie den Krieg angefangen hatten. Sie machten die Zeitungen, die öffentliche Meinung, die Friedensschlüsse, die Politik. Sie, die Jungen, waren tausendmal gescheiter, aber müde, halbtot, sie mußten ausruhen. Sie hatten nicht, wovon zu leben. Es war gleichgültig, ob Sie gefallen oder heimgekehrt waren. Und wohin waren Sie heimgekehrt? – In Ihre Elternhäuser!
Erinnern Sie sich an diese schauderhaften Elternhäuser! Haben Sie jemals die Bibliothek der Zippers gesehn? Ich habe oft mit den Bänden gespielt. Da waren drei prachtgebundene Jahrgänge ›Moderne Zeit‹, das ›Deutsche Knabenbuch‹, ›Der Trompeter von Säckingen‹ – welch eine Literatur! Erinnern Sie sich an die Kommode? Wir haben zu Hause eine ähnliche. Wenn ich ein Meter von ihr entfernt bin, fürchte ich mich schon vor ihren Kanten. Welch lebensgefährliche Möbel! Welch klirrender Hängeleuchter mit elektrisch beleuchteten Kerzen aus Porzellan, aber gedreht wie Wachs! Diese Kalender, die jedes neue Jahr vor den Schreibtisch gehängt wurden! Und diese abonnierten Blätter mit den Leitartikeln. Mein Vater kann heute noch nicht einschlafen, wenn er nicht weiß, was – ›Er‹ gesagt hat. ›Er‹ ist das absolute Er hinter dem Leitartikel. ›Er‹ ist dort, wo man alles weiß, ›Er‹ ist im Grunde genau so ein törichter kleiner Bürger wie sein Leser.
Arnold ist der junge Mann der Kriegsgeneration. (Kommen Sie, gehen wir ein wenig.)«
Wir gingen in den Park zurück. P. sprach lange. Er versuchte Arnolds Gleichgültigkeit, seine Trauer, seine Unentschlossenheit, seine Schwäche, seine Kritiklosigkeit auf die Erziehung zurückzuführen und auf den Krieg.
Die Sonne stand sehr hoch, die Kindermädchen rüsteten, nach Hause zu gehen, die Mittagsstunde brach an. Ich hörte, mit welcher Unerbittlichkeit P. die Menschen aus der Zeit zu erklären wußte. Zu dieser Entschiedenheit hatte er vielleicht mehr Recht als ich, als jeder andere, weil er ein Sterbender war. Er mußte zu jeder Zeit mit dem Urteil über alle Erscheinungen fertig sein, heute noch, zu jeder Stunde erwartete er den Tod.
Ich widersprach ihm nicht, ich gab ihm nicht recht. Ich sagte nur:
»Hätte ich einen Vater gehabt, ich hätte ihm keinen Vorwurf gemacht.« (Zu einem ganz kleinen Teil war übrigens der alte Zipper mein Vater.) »Sie stellen sich so hoch über die Menschen, daß Sie nur ihr Schwarzes und ihr Weißes sehen, ihre Schuld oder Unschuld. Sie richten wie ein Gott und wie ein Richter: nach den Absichten und nach den Taten. Wir aber, die wir im Krieg waren, richten nach dem Stoff, aus dem die Menschen gemacht sind.
Wir waren nicht nur müde und halbtot, als wir heimkamen, wir waren auch gleichgültig. Wir sind es noch. Wir vergaben nicht unseren Vätern, wie wir den jüngeren Generationen nicht vergeben, die uns nachrücken, ehe wir noch unsere Plätze hatten. Wir vergeben nicht, wir vergessen. Oder noch besser: wir vergessen nicht, wir sehen gar nicht. Wir geben nicht acht. Es ist uns gleichgültig. Das Schicksal der Menschen, des Landes, der Welt, was geht es uns an? Wir machen nicht Revolutionen, wir treiben passive Resistenz. Wir empören uns nicht, klagen nicht an, verteidigen nicht, erwarten gar nichts, fürchten gar nichts – – daß wir nicht freiwillig sterben, ist alles. Wir wissen, daß noch einmal eine Generation kommen wird, die so sein wird, wie unsere Väter waren. Noch einmal wird Krieg sein. Wir betrachten das lächerliche Gehabe derer, die an der Traurigkeit der Welt leiden – wie Sie –, derer, die im Krieg nicht waren – und der Jungen, die an dem Willen leiden, etwas zu bessern, zu verändern. Wenn Skepsis nicht auch eine Teilnahme voraussetzen würde, dann hätte ich gesagt: wir sind Skeptiker. Aber wir nehmen überhaupt nicht teil. Sie verspotten das Pathos. Wir aber glauben auch nicht an den Witz. Sie hassen die Reaktion. Wir zweifeln auch an den Erfolgen der Revolution. Was wollen Sie? – Wir sind irrtümlich zurückgekommen.«
P. schwieg.
Ich betrachtete die Kinder, die aufgeregt