O Leben, wunderbares, das du dir mit wissendem Willen Märtyrer schaffst, auf daß sie dir lobsingen, o Leben, weisegrausames, das du die Größen dir hörig machst mit Leiden, damit sie deinen Triumph verkünden! Den ewigen Schrei Hiobs, der durch die Jahrtausende tönt, da er in der Plage Gott erkennt, immer willst du ihn wieder hören und der Männer Daniels Jubelgesang, indes ihr Leib im feurigen Ofen brennt. Ewig entzündest du ihn, klingende Kohle, auf der Zunge der Dichter, die du zu Leidenden machst, auf daß sie dir hörig werden und dich nennen in Liebe! Beethoven schlägst du im Sinne der Musik, daß der Ertaubte das Brausen Gottes höre und, vom Tode berührt, dir die Hymne der Freude dichte, Rembrandt jagst du ins Dunkel der Armut, daß er Licht, dein Urlicht, in Farben sich suche, Dante verjagst du vom Vaterland, daß er Hölle und Himmel im Traum erschaue, alle hast du mit deinen Geißeln gejagt in deine Unendlichkeit. Und diesen, den du wie keinen gegeißelt, auch ihn hast du dir gezwungen zum Knechte, und siehe, von schäumender Lippe, hinfallend in Krämpfen jauchzt er dir Hosianna zu, das heilige Hosianna, das »durch alle Fegefeuer der Zweifel gegangen«. O wie siegst du in den Menschen, die du leiden läßt, aus Nacht machst du Tag, aus Leiden die Liebe, aus der Hölle holst du dir heiligen Lobgesang. Denn der Leidendste ist der Wissendste aller, und wer um dich weiß, muß dich segnen: und dieser, der dich zutiefst erkannte, siehe, er hat dich wie keiner bezeugt, er hat dich wie keiner geliebt!
Marceline Desbordes-Valmore - Das Lebensbild einer Dichterin (1920)
Im Insel-Verlag zu Leipzig, 1920
Inhalt
Erster Teil. Bildnis ihres Schicksals
Die Gefängnisse und die Gebete
Das Kopfkissen eines kleinen Mädchens