Rußland also ist Christus, der neue Erlöser, und wir sind die Heiden. Nichts errettet uns Verworfene aus dem Fegefeuer unserer Schuld: wir haben die Erbsünde begangen, keine Russen zu sein. Unserer Welt ist kein Raum in diesem neuen Dritten Reich: erst muß unsere europäische Welt untergehen im russischen Weltreiche, im neuen Gottesreiche, dann erst kann sie erlöst werden. Wörtlich sagt er: »Jeder Mensch muß vorerst Russe werden.« Dann erst beginnt die neue Welt. Rußland ist das Gottträgervolk: erst muß es noch mit dem Schwerte die Erde erobern, dann erst wird es sein »letztes Wort« der Menschheit sagen. Und dieses letzte Wort heißt für Dostojewski: Versöhnung. Für ihn besteht das russische Genie in der Fähigkeit, alles zu verstehen, alle Gegensätze zu lösen. Der Russe ist der Allversteher und darum der Nachgiebige im höchsten Sinn. Und sein Staat, der Zukunftsstaat, wird die Kirche sein, die Form der brüderlichen Gemeinschaft, der Durchdringung statt der Unterordnung. Und es klingt wie ein Prolog zu den Ereignissen dieses Krieges (der in seinem Anbeginn so genährt war von seinen Ideen, wie in seinem Ende von jenen Tolstois), wenn er sagt: »Wir werden die ersten sein, die der Welt verkünden, daß wir nicht durch Unterdrückung der Persönlichkeit und fremder Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen wollen, sondern im Gegenteil letzteres nur in der freiesten und selbständigsten Entwicklung aller Nationen und in der brüderlichen Vereinigung suchen.« Über die Berge des Ural wird das ewige Licht aufsteigen und das schlichte Volk, nicht der wissende Geist, nicht die europäische Kultur, mit seinen dunklen Geheimnissen der Erde verbundenen Kräften unsere Welt erlösen. Statt der Macht wird die werktätige Liebe sein, statt des Widerstreits der Persönlichkeiten das allmenschliche Gefühl, der neue, der russische Christus wird die Allversöhnung bringen, die Auflösung der Gegensätze. Und der Tiger wird neben dem Lamme weiden und der Rehbock neben dem Löwen – wie zittert Dostojewskis Stimme, wenn er vom Dritten Reich spricht, vom Allrußland der Erde, wie bebt er selbst in der Ekstase der Gläubigkeit, wie wunderbar ist er, der Wissendste aller Wirklichkeiten, in seinem messianischen Traum.
Denn in das Wort Rußland, in die Idee Rußland hinein träumt Dostojewski diesen Christustraum, die Idee der Versöhnung der Gegensätze, die er in seinem Leben, in der Kunst und selbst in Gott durch sechzig Jahre vergeblich gesucht. Aber dieses Rußland, welches ist es, das reale oder das mystische, das politische oder das prophetische? Wie immer bei Dostojewski: beides zugleich. Vergeblich, von einem Leidenschaftlichen Logik zu verlangen und von einem Dogma seine Begründung. In den messianischen Schriften Dostojewskis, den politischen, den literarischen Werken, taumeln die Begriffe wie rasend durcheinander. Bald ist Rußland Christus, bald Gott, bald das Reich Peters des Großen, bald das neue Rom, die Vereinigung des Geistes und der Macht, Tiara und Kaiserkrone, seine Hauptstadt bald Moskau, bald Konstantinopel, bald das neue Jerusalem. Die demütigsten allmenschlichsten Ideale wechseln brüsk mit machtgierigen slawophilen Eroberungsgelüsten, politische Horoskope von verblüffender Treffsicherheit mit phantastischen apokalyptischen Verheißungen. Bald jagt er den Begriff Rußland in die Enge der politischen Stunde, bald schnellt er ihn in das Grenzenlose empor – auch hier wie im Kunstwerk die gleiche zischende Mischung von Wasser und Feuer, von Realismus und Phantastik offenbarend. Der Dämonische in ihm, der rasende Übertreiber, in ein Maß gezwungen sonst in seinen Romanen, hier lebt er sich aus in pythischen Krämpfen: mit der ganzen Inbrunst seiner glühenden Leidenschaft predigt er Rußland als das Heil der Welt, die alleinmachende Seligkeit. Nie ward eine Nationalidee hochmütiger, genialer, werbender, verführender, berauschender, ekstatischer Europa als Weltidee verkündet, als die russische in den Büchern Dostojewskis.
Ein unorganischer Auswuchs der großen Gestalt scheint dieser Fanatiker seiner Rasse zuerst, dieser mitleidlose ekstatische russische Mönch, dieser hochmütige Pamphletist, dieser unwahrhaftige Bekenner. Aber gerade er ist notwendig für die Einheit von Dostojewskis Persönlichkeit. Wo immer wir bei Dostojewski ein Phänomen nicht verstehen, müssen wir seine Notwendigkeit im Kontrast suchen. Vergessen wir nicht: Dostojewski ist immer ein Ja und Nein, die Selbstvernichtung und Selbstüberhebung, der zur Spitze getriebene Kontrast. Und dieser übertriebene Hochmut ist nur das Widerspiel einer übertriebenen Demut, sein gesteigertes Volksbewußtsein nur das polare Empfinden seines überreizten persönlichen Nichtigkeitsempfindens. Er spaltet sich gleichsam selbst in zwei Hälften: in Stolz und in Demut. Seine Persönlichkeit erniedrigt er: man durchsuche die zwanzig Bände seines Werkes nach einem einzigen Worte der Eitelkeit, des Stolzes, der Überhebung! Nur Selbstverkleinerung findet man darin, Ekel, Anklage, Erniedrigung. Und alles, was er an Stolz besitzt, gießt er aus in die Rasse, in die Idee seines Volkes. Alles, was seiner isolierten Persönlichkeit gilt, vernichtet er, alles, was dem Unpersönlichen in ihm, dem Russen, dem Allmenschen gilt, erhebt er zur Vergötterung. Aus dem Unglauben an Gott wird er Gottesprediger, aus dem Unglauben an sich der Verkünder seiner Nation und der Menschheit. Auch im Ideellen ist er der Märtyrer, der sich selbst an das Kreuz schlägt, um die Idee zu erlösen. »Möge ich selbst untergehen, wenn nur die andern glücklich sind« – das Wort seines Staretz verwandelt er in Geist. Er vernichtet sich, um in dem zukünftigen Menschen aufzuerstehen.
Das Ideal Dostojewskis ist darum: zu sein, wie er nicht ist. Zu fühlen, wie er nicht fühlt. Zu denken, wie er nicht denkt. Zu leben, wie er nicht lebt. Bis in das Kleinste, Zug um Zug, ist der neue Mensch seiner individuellen Form entgegengesetzt, aus jedem Schatten seines eigenen Wesens ein Licht gebildet, aus jedem Dunkel ein Glanz. Aus dem Nein zu sich selbst schafft er das Ja, das leidenschaftliche zur neuen Menschheit. Bis ins Körperliche hinein setzt sich diese beispiellose moralische Verurteilung seines Selbst zugunsten des zukünftigen Wesens fort, die Vernichtung des Ichmenschen um des Allmenschen willen. Man nehme sein Bild, seine Photographie, seine Totenmaske und lege sie neben die Bilder jener Menschen, in denen er sein Ideal geformt: neben Aljoscha Karamasow, neben den Staretz Sossima, den Fürsten Myschkin, diese drei Skizzen zum russischen Christus, zum Heiland, die er entworfen. Und bis ins Kleinste wird hier jede Linie Gegensatz sagen und Kontrast zu ihm selbst. Dostojewskis Gesicht ist düster, erfüllt von Geheimnissen und Dunkelheit, jener Antlitz ist heiter und von friedlicher Offenheit, seine Stimme heiser und abrupt, die jener Menschen sanft und leise. Sein Haar ist wirr und dunkel, seine Augen tief und unruhig – jener Antlitz ist hell und umrahmt von sanften Strähnen, ihr Auge glänzt ohne Unruhe und Angst. Ausdrücklich sagt er von ihnen, daß sie geradeaus schauen und ihr Blick das süße Lächeln von Kindern hat. Seine Lippen sind schmal umkräuselt von den raschen Falten des Hohnes und der Leidenschaft, sie verstehen nicht zu lachen – Aljoscha, Sossima haben das freie Lächeln des selbstsicheren Menschen über den weißen Zähnen blinken. Zug um Zug setzt er so sein eignes Bild als Negativ gegen die neue Form. Sein Antlitz ist das eines gebundenen Menschen, des Knechtes aller Leidenschaften, bebürdet von Gedanken – das ihre drückt die