Hat man nun Dostojewski in dieser Tiefe der Erkenntnis, in dieser restlosen Auflösung der Empfindung erkannt, so weiß man: es gibt von ihm keinen Weg wieder zurück ins Vergangene. Will eine Kunst wahrhaft sein, so darf sie von nun an nicht die kleinen Heiligenbilder des Gefühls aufstellen, die er zerschlagen, nie mehr den Roman in die kleinen Kreise der Gesellschaft und Gefühle sperren, nie mehr das geheimnisvolle Zwischenreich der Seele verschatten wollen, das er durchleuchtet. Als erster hat er uns die Ahnung des Menschen gegeben, die wir als erste selbst sind, im Gegensatz zu der Vergangenheit, differenzierter im Gefühl, weil beladener mit mehr Erkenntnis als alle früheren. Niemand kann ermessen, um wie viel wir in den fünfzig Jahren seit seinen Büchern den Dostojewskischen Menschen schon ähnlicher geworden sind, wie viele Prophezeiungen sich schon in unserem Blute, in unserem Geiste von seiner Ahnung erfüllen. Das Neuland, das er als erster beschritten, ist vielleicht schon unser Land, die Grenzen, die er überwunden, unsere sichere Heimat.
Unendliches aus unserer letzten Wahrheit, die wir jetzt erleben, hat er uns prophetisch aufgetan. Er hat der Tiefe des Menschen ein neues Maß gegeben: nie hat ein Sterblicher vor ihm so viel vom unsterblichen Geheimnis der Seele gewußt. Aber wunderbar: so sehr er unser Wissen um uns selbst erweitert, nie verlernen wir an seiner Erkenntnis das hohe Gefühl, demütig zu sein und das Leben als etwas Dämonisches zu empfinden. Daß wir bewußter wurden durch ihn, hat uns nicht freier gemacht, sondern nur gebundener. Denn so wenig die modernen Menschen den Blitz, seit sie ihn als elektrisches Phänomen, als Spannung und Entladung der Atmosphäre erkennen und benennen, als minder gewaltig empfinden wie die vorherigen Geschlechter, so wenig kann unsere erhöhte Erkenntnis des seelischen Mechanismus im Menschen die Ehrfurcht vor der Menschheit vermindern. Gerade Dostojewski, der alle Einzelheiten der Seele uns wissend zeigte, dieser große Zerleger, dieser Anatom des Gefühles, gibt gleichzeitig tieferes, universaleres Weltgefühl als alle Dichter unserer Zeit. Und der so tief den Menschen gekannt wie keiner vor ihm, hat wie keiner Ehrfürchtigkeit vor dem Unbegreiflichen, das ihn gestaltet: vor dem Göttlichen, vor Gott.
Die Gottesqual
Gott hat mich mein ganzes Leben lang gequält.
Dostojewski
Gibt es einen Gott oder nicht?« fährt Iwan Karamasow in jenem furchtbaren Zwiegespräch seinen Doppelgänger, den Teufel, an. Der Versucher lächelt. Er hat keine Eile zu antworten, die schwerste Frage einem gemarterten Menschen abzunehmen. »Mit grimmiger Hartnäckigkeit« dringt Iwan nun in seiner Gottesraserei auf den Satan ein: er soll, er muß ihm Antwort stehen in dieser wichtigsten Frage der Existenz. Aber der Teufel schürt nur den Rost der Ungeduld. »Ich weiß es nicht«, antwortet er dem Verzweifelten. Nur um den Menschen zu quälen, läßt er ihm die Frage nach Gott unbeantwortet, läßt er ihm die Gottesqual.
Alle Menschen Dostojewskis und nicht als Letzter er selbst haben diesen Satan in sich, der die Gottesfrage stellt und nicht beantwortet. Allen ist jenes »höhere Herz« gegeben, das fähig ist, sich mit diesen qualvollen Fragen zu quälen. »Glauben Sie an Gott«, herrscht Stawrogin, ein anderer, Mensch gewordener Teufel, plötzlich den demütigen Schatow an. Wie einen Brandstahl stößt er ihm die Frage mörderisch ins Herz. Schatow taumelt zurück. Er zittert, er wird bleich, denn gerade die Aufrichtigsten bei Dostojewski zittern vor diesem letzten Bekenntnis (und er, wie hat er selbst davor gebebt in heiligen Ängsten). Und erst wie ihn Stawrogin mehr und mehr bedrängt, stammelt er aus blassen Lippen die Ausflucht: »Ich glaube an Rußland.« Und nur um Rußlands willen bekennt er sich zu Gott.
Dieser verborgene Gott ist das Problem aller Werke Dostojewskis, der Gott in uns, der Gott außer uns und seine Erweckung. Als echtem Russen, dem größten und wesenhaftesten, den dies Millionenvolk gebildet, ist ihm nach seiner eigenen Definition diese Frage um Gott und die Unsterblichkeit die »wichtigste des Lebens«. Keiner seiner Menschen kann der Frage entweichen: sie ist ihm angewachsen als Schatten seiner Tat, bald ihnen vorauslaufend, bald ihnen als Reue im Rücken. Sie können ihr nicht entfliehen, und der einzige, der versucht, sie zu verneinen, dieser ungeheure Märtyrer des Gedankens, Kirillow, in den »Dämonen«, muß sich selbst töten, um Gott zu töten – und beweist damit, leidenschaftlicher als die anderen, seine Existenz und Unentrinnbarkeit. Man blicke doch auf seine Gespräche, wie die Menschen vermeiden wollen, von Ihm zu sprechen, wie sie Ihm ausweichen und ausbiegen: sie möchten immer gern unten bleiben im niedern Gespräch, im »small talk« des englischen Romans, sie reden von der Leibeigenschaft, von Frauen, von der Sixtinischen Madonna, von Europa, aber die unendliche Schwerkraft der Gottesfrage hängt sich an jedes Thema und zieht es schließlich magisch in seine Unergründlichkeit. Jede Diskussion bei Dostojewski endet beim russischen Gedanken oder beim Gottesgedanken – und wir sehen, daß diese beiden Ideen für ihn eine Identität sind. Russische Menschen, seine Menschen, können sie, so wie in ihren Gefühlen, auch in ihren Gedanken nicht haltmachen, sie müssen unvermeidlich vom Praktischen und Tatsächlichen in das Abstrakte, vom Endlichen ins Unendliche, immer ans Ende. Und aller Fragen Ende ist die Gottesfrage. Sie ist der innere Wirbel, der ihre Ideen rettungslos in sich reißt, der schwärende Splitter in ihrem Fleische, der ihre Seelen mit Fieber erfüllt.
Mit Fieber. Denn Gott – Dostojewskis Gott – ist das Prinzip aller Unruhe, weil er, Urvater der Kontraste, zugleich das Ja und das Nein ist. Nicht wie auf den Bildern der alten Meister, in den Schriften der Mystiker ist er die sanfte Schwebe über den Wolken, selig-beschauliches Erhobensein – Dostojewskis Gott ist der springende Funke zwischen den elektrischen Polen der Urkontraste, er ist kein Wesen, sondern ein Zustand, ein Spannungszustand. Er ist, wie seine Menschen, wie der Mensch, der ihn schuf, ein ungenügsamer Gott, den keine Anstrengung bewältigt, kein Gedanke erschöpft,