Wie Kiri noch lag und nach allen Richtungen horchte, um Geräusche von fernen Ufern aufzufangen, da er nicht mehr wußte, ob sein Boot auf der Seehöhe oder in Landnähe sei, da tauchte im roten Schein seiner Kienfackel am Kiel ein ovaler Fleck auf, ähnlich dem aufgehenden Mond über der Seelinie. Kiri griff erleichtert zu den Rudern und wollte dem blassen Fleck entgegenfahren. Aber sein Boot schien sich nicht mehr vom Fleck zu rühren, soviel er auch ruderte.
Nun wußte Kiri, daß eine der Seeverzauberungen über ihn und sein Boot gekommen war, daß der Seebann, vor dem sich alle Bewohner von Karasaki fürchten, sein Boot festhielt, und daß das blasse Licht, das durch den rotbraunen Fackelschein ihm entgegensah, das Gesicht eines Seedämons war, dem er nicht mehr ausweichen konnte.
Die Kienfackel hörte auf zu paffen, brannte eine Weile lautlos; dann schrumpfte ihr Licht ein, als wäre die Fackel ins Wasser gefallen. Und das alte vertraute Boot, in dem Kiri von Kindheit an geatmet, gearbeitet, gegessen und geschlafen hatte, war schwarz geworden wie die Nachtluft und wie das Seewasser. Kiri fühlte nicht mehr den Bootrand. Vielleicht war auch sein Körper jetzt Luft, bezaubert von dem fahlen Gesicht des Dämons, der nun erscheinen sollte. Kiri erwartete eine Schreckensgestalt, einen Seedrachen mit zackigen Flügeln, einen Riesen, der den Kopf nicht auf den Schultern trüge, sondern dem er aus dem Bauch wüchse, dort, wo sonst bei den Menschen der Nabel ist.
«Guten Abend, Kiri», sagte ganz einfach eine Stimme im Dunkel. «Warum hast du kein Licht an deinem Boot?» sagte die Stimme eines Mädchens. «Kannst du nicht etwas Licht anzünden? Ich habe meinen Feuerstein ins Wasser fallen lassen und bin auf dein Boot zugerudert, ehe deine Fackel auslöschte. Kiri, schläfst du? Höre doch und mache Licht!»
«Wer bist du?» getraute sich Kiri erleichtert zu fragen.
«Mach Licht, dann wirst du mich sehen. Du kennst mich gut, Kiri. Verstell dich nicht und erkenne mich! Erinnerst du dich nicht mehr», sagte die Stimme im Dunkel, «weißt du nicht mehr, wo wir uns zum letzten Mal verließen?»
«Nein, ich kenne dich noch nicht», gab Kiri zurück. Und sein Herz suchte in allen seinen Erinnerungen. Und wie er grübelte, wurde es seltsamerweise Tag, und Kiri sah keinen See, keine Ufer, – er lag auf der Altane eines Hauses, das er gut kannte, aber in dem er lange nicht gewesen war; neben ihm auf einem flachen Seidenkissen saß ein schönes junges Mädchen und sagte: «Samurai, kennst du mich jetzt?» Und er sah sie an und grübelte wieder in seinen Erinnerungen und sah über das Altanengeländer einen Zwerggarten mit kleinen Brücken und kleinen Felsen. Und unter einer der kleinsten Brücken ging eben das letzte Stückchen der Abendsonne unter. Und Kiri grübelte, und der erste Stern erschien über dem lautlosen Zwerggarten. Aber der junge Mann erkannte das Mädchen nicht, und er erkannte auch das Haus noch nicht, trotzdem er wußte, daß es sein Haus war. Doch es lag nicht am See, und es war kein Fischerhaus. Es war das Haus eines Samurai, eines reichen Adeligen aus der Kriegerkaste.
Kiri betrachtete seine rechte Hand und sah, daß sie nicht mehr die grobe Hand eines Fischers war. Und Kiri grübelte und hörte plötzlich einen Laut, wie wenn aus vielen Tempeln viele Gongs andröhnen. Er fragte das Mädchen neben sich auf der Altane: «Welches Fest ist heute, weil alle Tempel rufen?»
«Es ist kein Fest», sagte das Mädchen und war rot und leuchtete wie eine Fackel, trotzdem kein Licht auf dem Altan brannte.
Und Kiri grübelte wieder. Aber die Tempelgongs schwiegen nicht, und auch die Erde unter ihm dröhnte wie ein Tempelgong und schien Kiri zu wecken und zu rufen.
«Es ist kein Fest, es ist ein Krieg», sagte Kiri plötzlich. «Was ist das für ein Krieg um die Tempel und auf der Erde?» fragte er von neuem das Mädchen.
Dieses wurde blaß und leuchtete weiß wie ein Metallspiegel und sagte: «Es ist kein Krieg, Kiri. Kein Krieg um die Tempel und kein Krieg auf der Erde.» Dabei bog sie sich über ihn, legte ihre Wange an Kiris Ohr und ihre Hand auf sein Herz.
Da wurde es still draußen um die Tempel, und auch die Erde schwieg. Die Sterne über dem Garten verschwanden, und Kiri hörte, wie ein leiser Regen begann. Es regnete ein Nachtregen. Und er sah mit offenen Augen, daß das Mädchen neben ihm aufstand, Diener hereinwinkte, ihn in eine Sänfte legen ließ und sich selbst zu ihm hinein in die Sänfte kauerte. Und der Regen regnete leise auf das Dach der Sänfte, wie das Getrippel einer tanzenden Frau. Dann standen die Diener, nach Stunden, schien es ihm, still. Man hob Kiri aus der Sänfte heraus. Er ließ alles geschehen und sah nur mit offenen Augen zu, daß man ihn in ein Boot legte. Es war ein vornehmes, großes Boot, ein Samuraiboot. Ein Goldlackhaus stand inmitten des Bootes. Eine große rote Laterne brannte am Kiel, und die Diener legten ihn auf die Diele des Goldlackhauses. Und Kiri hörte wieder den Regen auf das Dach trippeln, wie die Füße von hundert Tänzerinnen. Neben ihm saß das junge Mädchen, dessen Arme ließen seinen Nacken nicht los. Nur durch die offene Tür des Bootshauses sah Kiri an der roten Laterne, die ausgelöscht wurde und wieder angezündet, daß es Tag und Nacht wurde. Aber wie viele Tage und Nächte vergingen, das wußte er nicht.
Immer regnete der Regen, dieser seltsame Regen, der auch regnete, wenn die Sonne am Tage hereinschien, und auch nachts, wenn die Sterne an der Tür des Goldlackhauses standen, und der nur dann aufhörte, wenn das Mädchen neben ihm für einen Augenblick die Wange an seine Wange legte, die Lippen an seine Lippen und die Zungenspitze an seine Zungenspitze.
Allmählich aber wurde Kiri den Regen gewohnt, und eines Tages übte er keinen Bann mehr auf seine Glieder. Aber er sah an dem erschrockenen Gesicht des jungen Mädchens: es gefiel ihr nicht, daß er den Regen vergessen, daß er sich aufrichten und sich umsehen konnte.
Da fragte Kiri sie: «Wo sind wir?»
«In Japan, Samurai», sagte das Mädchen ausweichend.
Achtmal wurde die Laterne draußen ausgelöscht und achtmal wieder angezündet, und Kiri hatte wieder zählen gelernt. Am neunten Tag fragte er abermals das Mädchen: «Wo sind wir in Japan?»
«Auf dem Biwasee, Samurai», sagte das Mädchen.
«Sind viele Menschen auf dem See?» fragte Kiri.
«Samurai, nur ich und du und die Ruderer und ein paar Diener deines Hauses.»
«Aber ich höre viele Menschen auf dem See.»
«O Herr, es sind nicht Menschen, die du hörst. Das sind die vielen Füße des Regens.»
Kiri schwieg noch einmal eine Nacht lang. Aber als die rote Laterne am Morgen ausgelöscht wurde und der letzte Stern aus der offenen Tür ging, richtete er sich auf und fragte: «Wo sind wir auf dem Biwasee?»
«Wir sind auf der Höhe von Karasaki, Herr», antwortete das Mädchen. Aber ihre Stimme war vor Schreck nicht mehr ihre Stimme, und das Rascheln der Seide ihrer Ärmel war lauter als ihre Sprache. Kiri mußte noch einmal fragen, um sie zu verstehen, und er richtete sich auf und befahl mit seinen Augen dem Mädchen, zu bleiben und ihn nicht mehr anzurühren. Aber er hatte ihr nicht befohlen zu schweigen.
«Bleib doch bei mir, Samurai», sagte sie lauter und flehend. «Sieh, es wird bald wieder Nacht draußen!» Und sie hob ihre weißen Händchen aus den Ärmeln und langte nach den Zipfeln von Kiris Ärmeln und hielt sie mit ihren kleinen Händen fester als ein Dornbusch.
Da lachte Kiri über die Kraft der kleinen Finger, blieb aufrecht sitzen und hörte für eine Weile wieder den Regen.
Das Mädchen schmeichelte ihm und legte die Wange an seine Wange und sagte: «Was willst du draußen, Samurai, wo es immer regnet?»
Und ihre Hände und ihre Stimme brachten es noch einmal fertig, daß Kiri nicht aufstand