»Was sollte denn das für einen Sinn ergeben?«, tat er ihren Verdacht ab. »Thomas Brandler und Claudia Koch sind ein Liebespaar.«
Im nächsten Moment meldete sich sein Piepser. Schwester Gertrud rief ihn.
»Ich muss Schluss machen, Liebes«, verabschiedete er sich rasch. »Wir sprechen uns heute Mittag.«
*
Als Matthias an der Rezeption ankam, stand Schwester Gertrud sichtlich aufgeregt da.
»Frau Hölderlein hat angerufen. Ihre jüngste Tochter zeigt die gleichen Symptome wie Maja. Sie hat den Rettungswagen gerufen. Die haben sich schon gemeldet und angefragt, ob wir auch das Kind aufnehmen. Natürlich habe ich zugesagt.«
»Wie alt ist die jüngste Tochter der Hölderleins?«
»Erst fünf. Sie ist ein Nachzügler in der Familie.«
Matthias schluckte schwer. »Dann hat sie auch von dem Tee getrunken.«
»Das hat sie, wie Frau Hölderlein sagte. Und ihre Symptome sind wahrscheinlich noch schlimmer als bei ihrer älteren Schwester.«
»Wenn ich diesen Teufel erwische, der da am Werk war«, donnerte der Landarzt los. »Derjenige kann doch nur krank sein oder hasserfüllt auf die Menschheit.«
Da kündigte sich auch schon der Rettungswagen durch das Martinshorn an. Die Sanitäter schoben eine Rollliege in die Praxis, auf der die Fünfjährige lag.
»Sie ist bereits im Koma«, teilte der Notarzt Matthias mit, bevor dieser hinter der Rollliege her lief in Richtung Klinik.
*
Majas Schwester kam sofort auf die Intensivstation unters Sauerstoffzelt. Ihre kleine Brust hob sich unter der qualvollen Anstrengung nur noch unregelmäßig. Es sah so aus, als würde das Atemgerät ihren Sauerstoffmangel nicht mehr ausgleichen können. Erst als sich das Gegengift in ihrem Körper verteilte, stellte der Landarzt eine leichte Verbesserung ihres Zustandes fest. Majas Schwester wachte aus dem Koma auf. Matthias nahm ihre eiskalte Hand in seine, sprach mit dem Kind, das vor einer Woche noch wegen eines aufgeschlagenen Knies in seiner Praxis gewesen war, kontrollierte immer wieder die Aufzeichnungen der Überwachungsapparate, die irgendwann nach einer Zeit, die ihm unendlich lang vorkam, endlich Entwarnung angaben.
Da wurde die Tür aufgerissen, und Maja stand im Rahmen. Wie ein Geist wirkte sie in dem weißen Krankenhausnachthemd, den zerzausten Haaren und dem vom Weinen entstellten Gesicht.
»Das wollte ich nicht«, stieß die junge Frau hervor. »Das wollte ich wirklich nicht.«
Matthias stand auf, nahm sie in die Arme.
»Du konntest doch nicht wissen, dass deine Schwester auch von dem Tee trinken würde«, tröstete er sie. »Deine Mutter macht sich ebenso Vorwürfe, dass sie die Teekanne nicht sofort weggeräumt hat.«
Da riss sich Maja von ihm los, trat einen Schritt zurück und schrie: »Ich habe es getan. Ich habe das Gift in den Tee gemischt. Ich habe von dem Tee nur getrunken, um den Verdacht von mir abzulenken.«
Wie von Sinnen wirkte sie. Matthias überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, ob er die junge Frau gerade völlig falsch verstanden hatte oder ob sie verrückt geworden war.
»Was willst du damit sagen?«, fragte er betont ruhig und langsam.
Da brach Maja auf dem Fußboden zusammen. Wie ein Embryo lag sie da, Beine und Arme angezogen, jammerte und schrie.
Der Landarzt reagierte umgehend. Er zog eine Beruhigungsspritze auf und verabreichte sie seiner Patientin. Die Wirkung zeigte sich schnell. Die junge Frau wurde ruhiger, ihr Weinen leiser und hörte dann ganz auf. Er kniete sich neben sie, untersuchte sie. Sie war noch ansprechbar.
»Warum hast du das getan?«, fragte er.
Er musste die Antwort wissen, obwohl er sie schon ahnte.
»Diese Frau hat ihn mir weggenommen. Sie muss aus dem Tal verschwinden.«
Sprachlos über dieses Geständnis ließ er die Arme sinken. Liebe und Hass, ein Zusammenspiel, das so alt war wie die Welt und in dieser immer wieder neuen Schaden anrichtete. Während er Maja betrachtete, die mit geschlossenen Augen vor ihm lag und deren Atemzüge verrieten, dass sie eingeschlafen war, erinnerte er sich daran, dass sie als kleines Mädchen bereits Verhaltensauffälligkeiten gezeigt hatte, die auf eine psychische Labilität hinwiesen. Ihre Eltern hatten damals seinen Rat, ihre Tochter von Fachkollegen untersuchen zu lassen, nicht angenommen. Und dann hatte sich Maja ganz normal entwickelt, zumindest hatte es für alle so ausgesehen. Das dies nicht der Fall gewesen war, hatte sich jetzt gezeigt.
Was sollte er tun? Es stand ihm nicht zu zu richten. Er würde Maja Hölderlein, sobald ihr körperlicher Zustand dies zulassen würde, von seiner Miniklinik in eine Fachklinik für psychisch Kranke überweisen. Dort sah er die junge Frau. Und vielleicht würden seine Kollegen sie ja heilen können.
*
Der Sommer ging ins Land. Irgendwann machte die flirrende Hitze Nächten Platz, die schon kühl und feucht waren. Silberne Fäden zogen sich auf den Wegen von einem Strauch zum anderen. Die Farben des Hochsommers wichen satten Ocker- und Rottönen, die sich wie bunte Einsprengsel in den schwarzgrünen Wäldern machten. Die Sonnenstrahlen wärmten zwar noch, aber ohne erdrückend heiß zu sein, und die Luft verströmte den würzigen Duft nach reifem Obst und herabfallendem Laub.
An einem der sonnigen Tage Anfang Oktober gab es wieder eine Traumhochzeit in Ruhweiler, die von Claudia und Thomas. Angela und Christian Kofler waren ihre Trauzeugen. Und natürlich nahmen auch wieder Dr. Brunner und seine Frau daran teil.
Unter den goldenen Kastanienbäumen im Biergarten der Rottwälder Brauerei fand die Feier statt. Das frisch vermählte Paar strahlte mit der Herbstsonne um die Wette. Die Angst um Claudias Ruf im Tal, das gemeinsam durchlebte Abenteuer, hatte die beiden nur noch fester aneinandergeschmiedet. An diesem Tag hatte Thomas der geliebten Frau bewiesen, dass Liebe doch nicht nur ein Wort war. Fest hatte er an ihrer Seite gestanden. Keine Sekunde hatte er an ihr gezweifelt. Und Claudia war ihm dankbar dafür. Inzwischen arbeitete sie halbtags in der Apotheke sowie in ihrem Kräuterladen, der seinen festen Kundenkreis besaß. Jeder im Tal mochte die Kräuterpädagogin und gönnte ihr das Glück mit dem attraktiven Apotheker. Thomas hatte seine Wohnung mit Blick zur Straße und Hinterhof längst gegen das Haus im Wiesengrund eingetauscht.
»Und? Bist du glücklich?«, flüsterte Thomas seiner frisch angetrauten Frau ins Ohr, als die beiden den Tanz eröffneten.
»Mehr ginge nicht«, flüsterte sie mit erstickter Stimme zurück. Dabei sah sie ihm in die Augen. »Als du damals an diesem schrecklichen Tag so fest zu mir gestanden hast, wusste ich, dass ich keinen besseren Ehemann bekommen könnte.«
Sie legte den Kopf an seine Brust, schloss die Augen und ließ sich von dem geliebten Mann über die Tanzfläche führen.
»In guten wie in schlechten Zeiten«, sagte Thomas ernst und drückte sie noch fester an sich. »So hat der Pfarrer gesagt.«
»Aber damals waren wir noch nicht verheiratet«, wandte sie ein. Dabei lächelte sie ihn verschmitzt an.
»Ich habe dich aber schon geliebt. Nur darauf kommt es an. Auf Liebe und Vertrauen.«
Womit hatte sie es verdient, ein solches Glück erleben zu dürfen?, fragte sie sich, bevor sie ihm einen Kuss auf die Lippen gab.
»Ich habe noch ein Geschenk für dich«, verriet er ihr mit blitzenden Augen.
»Du hast mir doch schon den wunderschönen Ring geschenkt.«
»Nun gut …« Er lächelte verschmitzt. »Nur eine Kleinigkeit.«
»Und was?«
»Das bekommst du erst heute Abend.«
»Soso …« Sie musste leise lachen. »Da bin ich aber gespannt. Also in unserer Hochzeitsnacht.«
»Nein, früher.«