»Darüber weiß ich nichts. Da Small jedoch von den Andamanen kommt, so ist es gerade kein Wunder, daß dieser Insulaner ihn begleitet. Aber Watson, Sie sehen aus, als wären Sie halbtot vor Müdigkeit. Legen Sie sich aufs Sofa und ich will versuchen, Sie einzuschläfern.«
Er nahm seine Violine aus der Ecke und fing an, während ich mich behaglich ausstreckte, eine leise, träumerische Melodie zu spielen – ohne Zweifel nach eigener Eingebung, denn er besaß eine ungewöhnliche Gabe zu phantasieren. Zuerst sah ich noch seine hagern Gliedmaßen, sein ernstes Gesicht und das Auf-und Niedergleiten seines Bogens; dann schien ich dahinzuschweben auf sanften Tonwellen, bis ich im Traumlande ankam, wo Mary Morstans liebes Gesicht auf mich hernieder blickte.
9. Unwillkommener Stillstand
Erst spät am Nachmittag erwachte ich, neu gestärkt und erfrischt. Sherlock Holmes saß noch immer auf demselben Platze; er hatte jedoch die Violine beiseite gelegt und sich in ein Buch vertieft. Als ich eine Bewegung machte, sah er auf; seine Miene war düster und unruhig.
»Wie fest Sie geschlafen haben,« sagte er, »ich fürchtete schon, unsere Stimmen würden Sie wecken.«
»Ich habe nichts gehört. Sind neue Nachrichten gekommen?«
»Leider nein. Ich erwartete um diese Zeit schon Bestimmtes und bin sehr enttäuscht. Wiggins war eben hier um Bericht abzustatten. Er sagt, daß keine Spur von dem Boot zu finden sei. Mich ärgert dies Hindernis um so mehr, als jede Stunde von Wichtigkeit ist.«
»Könnte ich nichts thun? Ich bin jetzt vollkommen ausgeruht und bereit zu jeder nächtlichen Unternehmung.«
»Nein, uns bleibt nichts übrig als zu warten. Wenn wir das Haus verlassen, könnte die Botschaft in unserer Abwesenheit einlaufen und eine Verzögerung entstehen. Thun Sie, was Sie wollen, aber ich muß auf Wache bleiben.«
»Dann möchte ich in Camberwell Frau Cäcilie Forrester besuchen. Sie bat gestern darum.«
»Frau Forrester?« fragte Holmes, mit bedeutsamem Lächeln.
»Je nun, natürlich auch Fräulein Morstan. Die Damen waren auf den weiteren Verlauf der Sache gespannt.«
»Erzählen Sie ihnen nur nicht zu viel,« sagte Holmes. »Auf eine Frau darf man sich niemals verlassen – selbst auf die beste nicht.«
Ich nahm mir nicht die Zeit, dieser abscheulichen Ansicht zu widersprechen.
»In ein bis zwei Stunden bin ich wieder da,« rief ich.
»Ganz recht! Viel Vergnügen. Aber halt, wenn Sie so wie so auf die andere Seite des Flusses gehen, könnten Sie wohl den Toby zurückbringen. Höchst wahrscheinlich werden wir ihn nicht mehr brauchen.«
So nahm ich denn unsern Köter mit und lieferte ihn unter Beifügung einer halben Guinee an den alten Sherman in der Pinchinstraße ab. In Camberwell fand ich Fräulein Morstan etwas angegriffen von den Abenteuern der verflossenen Nacht, aber sehr begierig, die neuen Nachrichten zu hören. Ich erzählte den Damen alles, was wir gethan, behielt jedoch die schrecklichsten Einzelheiten für mich. So erwähnte ich zwar Scholtos Tod, aber nicht die genaue Art und Weise, wie derselbe erfolgt war. Immerhin blieb noch genug des Seltsamen, um sie in Staunen und Verwunderung zu setzen.
»Ein vollkommener Roman,« rief Frau Forrester. »Eine um ihr Recht betrogene Dame, ein Schatz von einer halben Million, ein schwarzer Kannibale und ein Spitzbube mit einem hölzernen Bein. Die Beiden letzteren vertreten die Stelle des feurigen Drachens oder des schlimmen Grafen.«
»Und zwei fahrende Ritter als Befreier,« fügte Fräulein Morstan hinzu, indem sie mir freundlich zulächelte.
»Aber Mary, wie können Sie nur so ruhig sein? Ihr ganzes Geschick hängt ja von dem glücklichen Ausgang der Sache ab. Stellen Sie sich nur vor, was es heißt, reich zu sein und die Welt zu seinen Füßen zu haben!« –
Mit innerlicher Freude nahm ich wahr, daß diese verlockende Aussicht sie keineswegs aus ihrer Ruhe brachte. Sie warf nur ihren edlen Kopf zurück, als handle es sich um etwas, woran sie wenig Interesse habe.
»Ich mache mir nur Sorge um Thaddäus Scholto,« sagte sie, »um weiter nichts. Er hat sich von Anfang an sehr gütig und ehrenhaft benommen, und mir scheint es unsere Pflicht, ihn von der völlig grundlosen, schrecklichen Anklage zu befreien.«
Erst gegen Abend verließ ich Camberwell, und es war ganz dunkel, als ich unser Haus erreichte. Buch und Pfeife meines Gefährten lagen neben seinem Stuhl, aber er selbst war verschwunden.
»Herr Holmes ist wohl ausgegangen?« fragte ich Frau Hudson, welche kam um die Läden zu schließen.
»Nein, Herr Doktor, er ist in seinem Zimmer. Wissen Sie,« fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, »ich bin recht besorgt um ihn.«
»Weshalb denn?«
»Ja, Herr Doktor, er ist so sonderbar. Als Sie weg waren, ist er immerfort auf-und abgegangen, bis mir’s ganz wirr im Kopf war von den unaufhörlichen Tritten über mir. Dann hörte ich ihn mit sich selbst sprechen, und so oft die Glocke ging, war er draußen an der Treppe und rief: ›Was giebt’s, Frau Hudson?‹ Jetzt ist er in seinem Zimmer und hat die Thüre ins Schloß geworfen, aber ich kann ihn wieder ebenso auf-und abstampfen hören. Wenn er nur nicht krank wird, Herr Doktor. Ich wollte etwas von einem niederschlagenden Mittel sagen, aber da hat er mich mit einem Blick angesehen, daß ich gar nicht weiß, wie ich nur aus dem Zimmer gekommen bin.«
»Sie beunruhigen sich ohne Ursache, Frau Hudson,« antwortete ich. »Ich habe ihn schon öfters so gesehen. Er hat jetzt gerade eine Angelegenheit im Kopfe, die ihn ruhelos macht.«
Ich versuchte, unserer guten Wirtin gegenüber sorglos zu erscheinen, aber mir selbst war unbehaglich zu Mute, wenn ich die lange Nacht hindurch von Zeit zu Zeit den dumpfen Ton seines Schrittes hörte. Ich wußte nur zu gut, wie sehr sein lebhafter Geist sich gegen diese gezwungene Unthätigkeit empörte.
Beim Frühstück sah er abgearbeitet aus, ein kleiner Fleck auf seiner Wange glühte in fieberhafter Röte.
»Sie richten sich zu Grunde, Freund,« bemerkte ich. »Auch in der Nacht haben Sie sich keine Ruhe gegönnt.«
»Ich konnte nicht