Es schlug bereits zwei Uhr, als wir bei Frau Forrester anlangten. Die Dienerschaft hatte sich schon vor mehreren Stunden zurückgezogen; nur die Frau des Hauses war noch wach, Fräulein Morstans Rückkehr erwartend. Die ganze seltsame Angelegenheit hatte Frau Forrester so sehr beschäftigt, daß sie keine Ruhe fand. Sie öffnete uns selbst die Thür, und es machte mir Freude zu sehen, wie zärtlich sie den Arm um die Heimgekehrte schlang, mit wie mütterlicher Stimme sie dieselbe begrüßte. Sie war ihr offenbar keine bezahlte Untergebene, sondern eine hochgeschätzte Freundin. Frau Forrester, eine anmutige Dame in mittleren Jahren, forderte mich dringend auf, einzutreten und unsere Abenteuer zu erzählen. Ich erklärte indessen, daß ich einen wichtigen Auftrag habe und versprach wiederzukommen und über den weitern Verlauf der Sache getreulich zu berichten. Beim Abfahren warf ich noch einen flüchtigen Blick zurück. Das behagliche Heim, die beiden Frauengestalten auf der Schwelle, die halboffene Thür, das Licht aus der Vorhalle, das durch gefärbte Scheiben auf sie fiel – es war ein anmutiges Bild, das mich begleitete und wohlthuend beruhigte inmitten der wilden, dunkeln Erlebnisse, die mich so völlig eingenommen hatten.
Je mehr ich über die ganze Begebenheit nachdachte, um so verwirrter und düsterer wurde sie. Während die Droschke mit mir durch die stillen, gasbeleuchteten Straßen dahinrasselte, rief ich mir noch einmal alle Einzelheiten ins Gedächtnis. Das ursprüngliche Problem war jetzt so ziemlich gelöst. Der Tod Hauptmann Morstans, die Uebersendung der Perlen, die Zeitungsanzeige, der Brief – über dies alles waren wir nun aufgeklärt, aber es hatte uns nur zu einem noch rätselhafteren und schrecklicheren Geheimnis geführt. Der indische Schatz, der seltsame Grundriß, der in Morstans Brieftasche gefunden worden, die Szene beim Tode des Majors Scholto, die Wiederauffindung des Schatzes, auf welche unmittelbar die Ermordung des Entdeckers gefolgt war, die merkwürdigen Indizien, von denen das Verbrechen begleitet war, die Fußspuren, die fremdartige Waffe, das Zeichen der Vier auf dem Grundriß und dieselben Worte auch jetzt wieder auf dem Stück Papier – in der That ein verzweifeltes Labyrinth, aus dem nur Holmes mit seiner eigenartigen Begabung hoffen durfte, sich herauszufinden. Die im untern Teil von Lambeth gelegene Pinchin-Gasse bestand meist aus unansehnlichen, zweistöckigen Ziegelhäusern. Ich klopfte bei Nro. 3 längere Zeit, aber ohne Erfolg. Endlich zeigte sich indessen ein Lichtschein hinter dem Vorhang und ein Gesicht guckte aus dem oberen Fenster.
»Fort mit Euch, betrunkener Ruhestörer,« schallte es herunter, »wenn Ihr hier noch weiter Lärm macht, schließe ich den Hundestall auf und lasse dreiundvierzig Hunde auf Euch los.«
»Ihr sollt nur einen herauslassen – deshalb komme ich eben.«
»Fort mit Euch!« schrie die Stimme wieder. »Meiner Seel’, ich hab’ eine Natter hier im Sack; die werf’ ich Euch auf den Kopf, wenn Ihr Euch nicht davon macht.«
»Ich brauche aber einen Hund,« rief ich.
»Aufgepaßt! Wenn ich ›drei‹ sage – kommt die Schlange herunter.«
»Herr Sherlock Holmes,« begann ich von neuem – die Worte übten eine wahrhaft magische Wirkung. Das Fenster wurde augenblicklich zugeworfen und in einer Minute war die Hausthür aufgeschlossen. Der alte Sherman, ein langer, schmächtiger Mann mit starkem Nacken und gebückten Schultern, trug eine blaugefärbte Brille. Er hielt sein Licht in die Höhe.
»Ein Freund von Herrn Sherlock ist mir zu jeder Zeit willkommen,« sagte er. »Treten Sie ein. Nehmen Sie sich vor dem Köter in acht; der beißt. Ach du Nichtsnutz, du Nichtsnutz! hast du Lust nach dem Herrn zu schnappen?« Das war an ein Hermelin gerichtet, das den boshaften Kopf mit den roten Augen durch die Stäbe seines Käfigs drängte. – »Um die Schlange dort kümmern Sie sich nicht, es ist nur eine Ringelnatter. Sie ist nicht giftig, darum lasse ich sie durch die Stube laufen; sie schafft mir die Käfer fort. Sie dürfen mir’s nicht verübeln, daß ich Sie zuerst ein bißchen grob angelassen habe; denn sehen Sie, es giebt so manchen, der mich ‘raus klopft aus reinem Uebermut. Womit kann ich Herrn Sherlock dienen?«
»Er braucht einen Ihrer Hunde.«
»Aha! das wird der Toby sein.«
»Ja, Toby nannte er ihn.«
»Toby wohnt hier links in Nro. 7.«
Langsam schritt er mit seinem Licht voraus, mitten durch die merkwürdige Tierfamilie, die er um sich versammelt hatte. Bei dem unsichern Licht sah ich nur, wie bald hier, bald da funkelnde Augen aufblitzten, die aus Spalten und Winkeln auf uns niederguckten. Selbst auf den Balken über unseren Köpfen saßen würdevolle Vögel, die lässig das eine Bein, auf dem ihr Körper ruhte, mit dem andern wechselten, als unsere Stimmen ihren Schlummer störten.
Toby war ein häßliches, langhaariges Geschöpf, halb Wachtel-halb Dachshund, braun und weiß gefleckt, mit Hängeohren und ungeschicktem, wackeligem Gang. Nach einigem Zögern nahm er das Stück Zucker, welches sein Herr mir zugesteckt hatte, aus meiner Hand an. Dies besiegelte unser Bündnis; er folgte mir nun in die Droschke und machte keinerlei Schwierigkeit während der Fahrt. Es schlug drei auf der Schloßuhr, als ich Pondicherry-Lodge wieder erreichte. Mc. Murdo, der Hauswärter, war als Helfershelfer verhaftet worden, und statt seiner bewachten zwei Polizisten das enge Thor. Als ich jedoch den Namen des Detektivs nannte, ließen sie mich ungehindert mit dem Hunde passieren. Holmes stand, die Hände in den Taschen, auf der Hausschwelle und rauchte eine Pfeife.
»Schön, daß Sie ihn bringen!« rief er erfreut. »Athelney Jones ist inzwischen fortgegangen. Er hat während Ihrer Abwesenheit eine außerordentliche Kraft entfaltet und nicht allein unsern Freund Thaddäus, sondern auch den Thürhüter, die Haushälterin und den indischen Diener festgenommen. Jetzt haben wir den Schauplatz oben ganz für uns; nur der Sergeant ist da. Lassen Sie den Hund hier und kommen Sie mit.«
Wir banden Toby an ein Tischbein im Vorsaal und stiegen die Treppe hinauf. Im oberen Zimmer fanden wir alles unverändert, nur die Gestalt in der Mitte war mit einem Linnentuch verhüllt worden.
»Leihen Sie mir Ihre Blendlaterne, Sergeant,« sagte mein Gefährte zu dem schläfrigen Polizisten, der im Winkel saß. – »Danke. – Nun muß ich Stiefel und Strümpfe ausziehen, die nehmen Sie wohl mit hinunter, Watson. Ich habe eine kleine Kletterpartie vor. Bitte, tauchen Sie mein Taschentuch in das Kreosot. Recht so! Nun kommen Sie noch einen Augenblick mit mir nach dem Dachboden.« Wir stiegen wieder durch das Loch hinauf. Holmes beleuchtete mit der Laterne die Fußstapfen im Staube.
»Bitte, betrachten Sie einmal diese Fußspuren recht genau. Fällt Ihnen irgend etwas Absonderliches dabei auf?«
»Sie stammen von einem Kinde oder einem kleinen Frauenzimmer,« sagte ich.
»Aber, abgesehen von dem Maß, – bemerken Sie sonst nichts?«
»Sie scheinen mir so ziemlich wie andere Fußspuren.«
»Durchaus nicht. Sehen Sie her! Dies ist der Abdruck eines rechten Fußes im Staube. Nun mache ich einen daneben mit meinem nackten Fuß. Was ist der Hauptunterschied?«
»Ihre Zehen sind alle zusammengepreßt; bei dem andern Abdruck dagegen trennen sich die Zehen deutlich von einander.«
»Richtig. Merken Sie sich das, es ist von Wichtigkeit. Nun riechen Sie, bitte, an dem Holzrahmen des Klappfensters!«
Ich folgte seiner Anweisung und spürte augenblicklich einen starken Kreosotgeruch.
»Da