»Das will ich meinen,« rief ich lachend.
»Dies ist gerade eine Gelegenheit, bei der sich die Buben unschätzbar erweisen können. Mißlingt es ihnen, so habe ich noch andere Hilfsquellen; den Versuch mache ich jedenfalls. Das Telegramm ist an meinen kleinen, schmutzigen Leutnant Wiggins abgegangen, und ich erwarte, daß er mit seiner Truppe vor uns erscheinen wird, ehe wir noch mit dem Frühstück fertig sind.«
Es war jetzt zwischen acht und neun Uhr und ich fühlte mich nach den mannigfachen Aufregungen geistig und körperlich müde und abgespannt. Ich konnte den Fall weder als reine Verstandesaufgabe betrachten, noch mich leidenschaftlich dafür begeistern, wie mein Gefährte. Von Bartholomäus Scholto hatte ich so wenig Gutes gehört, daß mir seine Mörder keinen allzugroßen Abscheu einflößten. Die Wiedererlangung des Schatzes freilich erschien auch mir von Wichtigkeit. Ein Teil desselben kam ohne Frage Fräulein Morstan zu, und ich war bereit, alles daran zu setzen, damit sie ihr Recht erlange. Zwar wenn ich ihn fand, so hob sein Besitz sie wahrscheinlich für immer aus meinem Bereich, aber das müßte eine kleinliche und selbstsüchtige Liebe sein, die sich durch solche Gedanken beeinflussen ließe. Wenn Holmes keine Anstrengung scheute, um die Verbrecher zu finden, so hatte ich einen noch zehnfach stärkeren Antrieb, den Schatz zu entdecken. Nachdem ich zu Hause ein Bad genommen und mich völlig umgekleidet hatte, fühlte ich mich wunderbar erfrischt. In unserm Wohnzimmer fand ich das Frühstück bereit und Holmes schenkte den Kaffee ein.
»Da haben Sie’s,« sagte er lachend und deutete auf einen Zeitungsartikel; »der energische Jones und der allweise Berichterstatter machen den Fall schon unter sich zurecht. Aber Sie haben die Geschichte gewiß satt, Watson. Besser, Sie essen erst Ihren Schinken und Ihre Eier.«
Ich nahm das Blatt und las den kurzen Artikel, dessen Ueberschrift lautete:
Geheimnisvolle Begebenheit in Ober-Norwood.
»Wie uns der Standard meldet, wurde letzte Nacht gegen zwölf Uhr Herr Bartholomäus Scholto von Pondicherry-Lodge in seinem Zimmer tot aufgefunden, und zwar unter Umständen, welche auf ein Verbrechen schließen lassen. Zwar fanden sich keine Spuren einer Gewaltthat an Herrn Scholtos Person, aber eine wertvolle Sammlung indischer Edelsteine, welche der Verstorbene von seinem Vater geerbt hatte, ist verschwunden. Die Entdeckung wurde zuerst von den Herren Sherlock Holmes und Dr. Watson gemacht, welche mit Thaddäus Scholto, dem Bruder des Verstorbenen ins Haus gekommen waren. Ein besonderer Glücksfall wollte, daß Athelney Jones, das wohlbekannte Mitglied der Geheimpolizei, schon eine halbe Stunde nach dem ersten Alarm an Ort und Stelle sein konnte. Bei seiner vorzüglichen Befähigung und großen Erfahrung kam er bald den Verbrechern auf die Spur, und wir hören, daß bereits der Bruder, Thaddäus Scholto, die Wirtschafterin, Frau Bernstone, ein indischer Hausmeister Namens Lal Rao und der Pförtner, Mc. Murdo in Gewahrsam gebracht worden sind. Die Diebe mußten mit der Einrichtung des Hauses genau bekannt sein; denn sie sind, wie Herrn Jones’ scharfsinnige Untersuchung feststellte, weder durch die Thür, noch durch das Fenster hereingekommen, sondern über das Dach, von wo aus sie durch eine Fallthür in einen Raum gelangten, der mit dem Zimmer, in welchem die Leiche gefunden wurde, in Verbindung steht. Aus dieser Thatsache ergiebt sich klar, daß der Einbruch kein unvorbereiteter gewesen ist. Dem sofortigen und thatkräftigen Eingreifen der Beamten des Gesetzes gebührt das größte Lob. Die glänzenden Eigenschaften unserer Geheimpolizei haben sich bei dieser Gelegenheit einmal wieder trefflich bewährt.«
»Ist es nicht wundervoll?« sagte Holmes über seine Kaffeetasse hinweg.
»Ich denke, wir können von Glück sagen, daß wir nicht selbst als Verbrecher festgenommen sind.«
»Ohne Zweifel. Auch stehe ich noch gar nicht für unsere Sicherheit. Jones könnte leicht einen neuen Anfall von Energie haben.«
In diesem Augenblick wurde heftig an der Hausglocke gezogen und gleich darauf hörten wir Frau Hudson, unsere Wirtin, laut klagen und schelten.
»Wahrhaftig, Holmes,« rief ich, mich erhebend, »ich glaube, sie sind schon hinter uns her.«
»Nein, so schlimm ist es nicht. Es sind nur meine Hilfstruppen: das Freikorps aus der Bakerstraße.«
Während er noch sprach, hörte man ein hastiges Trampeln nackter Füße auf den Treppenstufen, ein Durcheinanderschreien hoher Stimmen und herein platzten ein Dutzend schmutziger und zerlumpter kleiner Gassenbuben. Nicht ohne einen gewissen Anstrich von Disziplin, trotz ihres stürmischen Eintritts, stellten sie sich augenblicklich mit erwartungsvollen Gesichtern vor uns in Reih und Glied auf. Einer aus ihrer Zahl, der etwas größer und älter war als die übrigen, trat mit einer überlegenen, selbstbewußten Miene vor, die dem unansehnlichen, kleinen Wicht höchst komisch stand.
»Hab’ Ihre Botschaft bekommen, Herr, und hab’ die Jungens gleich stramm zusammengebracht. Auslage für Fahrkarten wie gewöhnlich.«
»Schon recht, Wiggins,« sagte Holmes und holte etwas Silbergeld aus der Tasche.
»Künftighin können sie dir Bericht erstatten und du mir. Ihr braucht nicht auf das Haus Sturm zu laufen. Diesmal ist es aber gut, daß ihr alle die Instruktion mit anhört. Ihr sollt ausfindig machen, wo ein Dampfboot, genannt die ›Aurora‹ hingeraten ist, dessen Eigentümer Mordecai Smith heißt. Es ist schwarz mit zwei roten Streifen; der Dampfschlot, schwarz mit weißem Reif ringsum. Einer von euch Jungens muß an Mordecai Smiths Landungsplatz bleiben, Millbank gegenüber, um zu sehen ob das Boot zurückkommt. Ihr andern geht den Fluß hinunter und durchsucht beide Ufer gründlich. Sobald ihr etwas wißt, meldet ihr mir’s. Habt ihr alles richtig verstanden?«
»Jawohl,« sagte Wiggins.
»Was den Lohn betrifft – der alte Satz, – und eine Guinee dem Jungen, der das Boot entdeckt. Da habt ihr einen Taglohn im voraus. Nun fort mit euch!« Er gab jedem einen Schilling und sie stürmten die Treppe hinunter. Im nächsten Augenblick sahen wir sie schon auf der Straße rennen.
»Wenn das Boot über Wasser ist, so werden sie es finden,« sagte Holmes, indem er vom Tische aufstand und seine Pfeife anzündete. Sie kommen überall hin, wo es etwas zu sehen und zu hören giebt, und wir brauchen nur den Erfolg abzuwarten. Erst wenn wir entweder die ›Aurora‹ oder Mordecai Smith entdeckt haben, können wir unsere Forschungen wieder aufnehmen.«
»Die Reste hier werden Toby gut schmecken, denke ich. – Gehen Sie jetzt zu Bett, Holmes?«
»Nein, ich bin nicht schläfrig. Ich habe eine sonderbare Konstitution. Ich erinnere mich nicht, bei der Arbeit je müde geworden zu sein; nur das Nichtsthun erschöpft mich vollständig. Ich werde noch bei meiner Pfeife über dies seltsame Geschäft nachdenken, das ich meiner schönen Klientin verdanke. Mir scheint, die Lösung unserer Aufgabe sollte ein Kinderspiel sein. Männer mit hölzernen Beinen sind doch nicht so gewöhnlich, und den andern Mann halte ich für vollkommen einzig in seiner Art.«
»Wieder der andere Mann!«
»O, Ihnen gegenüber will ich gar kein Geheimnis aus seiner Person machen. Sie hätten übrigens schon längst von selbst darauf kommen können. Rufen Sie sich doch einmal alle Einzelheiten ins Gedächtnis. Winzig kleine Fußspuren, Zehen, die niemals in einen Stiefel gepreßt wurden, nackte Füße, ein hölzerner Knüttel mit Steingriff, ungewöhnliche Gewandtheit, kleine vergiftete Dornen. Was läßt sich aus dem allem zusammensetzen?«
»Ein Wilder!« rief ich aus. »Vielleicht einer von den Hindus, welche die Genossen Jonathan Smalls waren.«
»Kaum,« sagte er. »Als ich die fremdartige Waffe sah, war ich auch zuerst geneigt, das zu denken; aber die merkwürdige Form der Fußstapfen belehrte mich eines Bessern. Es giebt zwar kleine Leute unter den Bewohnern der indischen Halbinsel, aber keiner von ihnen hätte diese Spuren hinterlassen können. Der eingeborene Hindu hat lange, schmale Füße. Bei den sandalentragenden Muhamedanern ist die große Zehe vollständig von den andern getrennt, weil der Riemen gewöhnlich dazwischen durchgezogen ist. Die kleinen Bolzen aber lassen sich nur auf eine einzige Weise abschießen, nämlich durch ein Blasrohr. Nun also, wo wird unser