Dann begann tief unten auf einem Bauernhof entlang der Straße, ein Hund zu heulen – ein langes, gequältes Geheul, als wäre es durch Angst hervorgerufen. Ein anderer Hund heulte ebenfalls, und ein weiterer gesellte sich hinzu und wieder einer. Bis der Wind, der sanft durch das Passgebiet glitt, das Singen der Hunde zu einem wilden Geheul vereinte. Es schien aus allen Richtungen und von überall her zu kommen – soweit die Einbildung in der Finsternis der Nacht ausreichte. Bei den ersten Lauten zerrten und schnaubten die Pferde, aber der Kutscher sprach mit besänftigenden Worten, worauf sie wieder ruhiger wurden, wenngleich sie auch zitterten und schwitzten wie nach einer Flucht vor plötzlicher Gefahr. Dann, noch weit entfernt, klang von beiden Seiten der Berge ein lautes und helles Geheul – das der Wölfe – das die Pferde und mich gleichermaßen erschreckte. Ich war bereit, von der Kalesche zu springen und wegzulaufen, während die Pferde wieder schnaubten und wie verrückt um sich schlugen, sodass der Wagenlenker all seine Kräfte aufbringen musste, um die Rösser im Zaum zu halten. Nach ein paar Minuten hatten sich meine Ohren an den Lärm gewöhnt, und auch die Gäule begannen, wieder so ruhig zu werden, dass der Fuhrmann von der Kutsche absteigen und sich vor die Pferde hinstellen konnte. Er liebkoste und beruhigte die Tiere und flüsterte ihnen etwas in die Ohren, wie es Pferdebändiger machen; und es wirkte mit besonderem Erfolg, denn unter seinen Liebkosungen wurden sie wieder kontrollierbarer, obgleich sie immer noch zitterten. Der Fahrer nahm wieder Platz auf seinem Bock, straffte die Zügel und fuhr mit hohem Tempo ab. Diesmal, von der fernen Seite des Passes, bog er plötzlich in einen schmalen Weg, der scharf nach rechts verlief. Der war von Bäumen gesäumt, deren Zweige sich über die Straße wölbten und förmlich einen Tunnel bildeten; auf beiden Seiten bewachten uns sehr kühne und zerklüftete Gesteinsformationen. Wenngleich wir einigermaßen geschützt waren, konnten wir den auflebenden Wind hören, der stöhnte, durch die Steine pfiff, und die Äste der Bäume gegeneinander krachen ließ, als wir den Weg entlang fegten. Es wurde kälter und immer kälter und feiner pulvriger Schnee begann, vom Himmel zu fallen, der uns und unsere Umgebung in ein weißes Tuch hüllte. Der heftige Wind brachte uns aus immer weiterer Ferne das Heulen der Hunde. Dagegen klang das Geheul der Wölfe immer näher und näher, so, als würden sie uns von allen Seiten umgeben. Mir war schrecklich bange, und die Pferde teilten meine Furcht; der Kutscher hingegen war keineswegs beunruhigt. Er drehte seinen Kopf aufmerksam nach rechts und nach links, ich aber konnte in der Dunkelheit nicht das Geringste erkennen.
Mit einem Mal, zu unserer Linken, sah ich eine matt flimmernde, blaue Flamme. Der Fahrer sah sie im selben Moment; gleichzeitig stoppte er die Pferde, sprang auf den Boden und verschwand in der Finsternis. Ich wusste nicht, was zu tun war, umso mehr das Heulen der Wölfe immer näher kam; aber während ich mich noch wunderte, tauchte der Kutscher plötzlich wieder auf und ohne ein Wort setzte er sich wieder auf seinen Sitz, und wir nahmen die Fahrt wieder auf. Ich dachte, in Schlaf versunken zu sein, denn der Vorfall wiederholte sich endlos oft. Wenn ich jetzt daran denke, ist es wie ein fürchterlicher Albtraum. Dann erschien eine Flamme, die so nahe an der Straße war, dass ich sogar in der Dunkelheit, die uns umgab, die Bewegungen unseres Kutschers erkennen konnte. Er ging rasch dorthin, wo die Flamme entsprungen war und errichtete mit mehreren Steinen ein eigenartiges Bauwerk. Die Flamme muss sehr schwach gewesen sein, da sie nicht einmal die nähere Umgebung um sich herum ausleuchten konnte. Eine eigenartige optische Erscheinung entstand: Als er zwischen mir und der Flamme stand, die er nicht verdeckte, konnte ich ihr gespenstisches Flackern sehen. Das entsetzte mich. Da aber das Trugbild nur kurz zu sehen war, führte ich es darauf zurück, dass mich meine Augen aufgrund der nächtlichen Anstrengung betrogen hatten. Dann verschwand für eine Weile das blaue Licht, und wir beeilten uns durch die Nachtschwärze, um uns herum hörten wir das Geheul der Wölfe, als verfolgten sie uns in einem weiten Kreis.
Schließlich verließ der Kutscher wieder den Wagen, und während seiner Abwesenheit fingen die Rösser stärker als je zuvor zu zittern, zu schnauben und aus Furcht zu wiehern. Ich sah die Ursache dafür nicht, denn das Heulen der Wölfe hatte aufgehört; der Mond segelte durch die schwarzen Wolken und tauchte hinter dem zerklüfteten Kamm eines föhrenbedeckten Felsens auf. In seinem Licht erblickte ich rund um uns ein Rudel Wölfe mit weißen Zähnen, roten, heraushängenden Zungen, mit langen sehnigen Beinen und zottigem Fell. Ihr grimmiges Schweigen war hundertmal furchtbarer als ihr Geheul. Ich fühlte mich wie gelähmt vor Schreck. Derart empfindet man nur, wenn man unversehens einer solchen Gefahr unmittelbar gegenübersteht.
Dann begannen die Wölfe wieder zu heulen, so, als ob das Mondlicht einen besonderen Einfluss auf sie gehabt hätte. Die Pferde schlugen aus, schnaubten und sahen so hilflos aus wie sie ihre Augen rollten, auf eine Art und Weise, dass es einem beim Hinsehen weh tat; aber der lebendige Ring der Verderbnis umgab sie von allen Seiten, und es blieb ihnen nichts übrig, als darin zu verweilen. Ich rief nach dem Fuhrmann, denn es schien mir nur mit seiner Hilfe möglich, den Ring zu durchbrechen. Ich schrie und schlug auf die Seitenwand der Kalesche ein, in der Hoffnung, dass durch den Lärm die Wölfe fern gehalten, und er auf dieser Seite wieder zusteigen könnte. Er kam auch. Wie er es schaffte? Ich weiß es nicht. Aber ich hörte seine Stimme, die nach gebieterischem Befehl klang. Dem Klang seiner Stimme folgend, sah ich ihn auf der Straße stehen. Als er seine langen Arme schwenkte, so, als wollte er damit ein kaum greifbares Hindernis beiseite schaffen, wichen die Wölfe mehr und mehr zurück. Dann schob sich eine schwarze Wolke vor den Mond, und wir waren wieder in der Dunkelheit.
Als sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, und ich wieder halbwegs zu sehen vermochte, konnte ich den Fahrer die Kutsche besteigen sehen; die Wölfe waren in der Zwischenzeit verschwunden. Das war alles so seltsam und unheimlich, dass eine schreckliche Furcht über mich kam, und ich derart verängstigt war, dass ich weder sprechen noch mich bewegen konnte. Die Zeit schien endlos, als wir unsere Fahrt fortsetzten – diesmal in völliger Dunkelheit, da die rollenden Wolken den Mond völlig verdeckten. Wir fuhren zumeist bergauf, bis auf wenige Abschnitte, wo wir ein jähes Gefälle durchfuhren. Plötzlich wurde mir bewusst, dass der Kutscher die Pferde in den Hof einer zerfallenen Burg manövrierte, aus deren Fenster kein Licht drang, und ihre zerfallenen Zinnen hoben sich wie eine zerklüftete Linie gegen den mondhellen Himmel ab.
ZWEITES KAPITEL
DAS TAGEBUCH VON JONATHAN HARKER
– Fortsetzung -
5. Mai – Ich musste geschlafen haben, denn wenn wir uns einem so seltsamen Platz näherten, hätte mir das doch auffallen müssen. In der Dunkelheit schien der Burghof von beachtlicher Größe zu sein. Und von ihm weg führten mehrere Straßen unter gewaltigen runden Torgewölben hinaus, ließen ihn vielleicht noch größer erscheinen, als er wirklich war. Ich habe ihn bis heute nicht bei Tageslicht gesehen.
Als die Kalesche anhielt, sprang der Kutscher vom Bock und reichte mir die Hand, um mir beim Absteigen behilflich zu sein. Und wieder musste ich seine Kraft bewundern. Seine Hand schien wie eine Stahlklaue zu sein, und wenn er es wollte, hätte er mir meine Finger damit leicht zerbrochen. Dann nahm er meine Koffer und stellte sie neben mich auf den Boden. Ich stand vor einem großen Tor, alt und dicht besetzt mit langen und eisernen Nägeln, das in einen ausladenden Torbogen aus gewaltigem Stein eingelassen war. Im trüben Licht konnte ich erkennen, dass in den Stein alte, massive Bilder eingemeißelt waren, die jedoch von Zeit und Wetter deutlich verwittert waren. Als ich so da stand, schwang sich der Kutscher wieder auf seinen Wagen, zog die Zügel und verschwand mitsamt seinen Pferden in einer dunklen Toröffnung.
Ich blieb schweigend