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Ein paar Stunden später wurde die Verhandlung wieder aufgenommen. Bill Brown rief die Männer, die sich selbst zu Geschworenen ernannt hatten, im Kreise um den Galgen zusammen. Er sprach:
»Kameraden! Männer von Klondike und Alaska! Ihr werdet sogleich aus dem Munde von La Flitche hören, was der sterbende Indianer ihm gebeichtet hat, und ihr werdet dann entscheiden, wie viel Schuld diesen Mann unter dem Galgen trifft. Nur eine Frage will ich zuvor noch an Sie richten, Gregory St. Vincent! Warum haben Sie nicht früher gesprochen? Sie hatten das Wort, so oft Sie es wünschten. Wir haben Ihren Fall geprüft, wie kein Gerichtshof in den Staaten ihn besser hätte prüfen können. Wir haben gewusst, dass unser Spruch vor den höchsten Behörden des Landes bestehen muss, und es hätte Herrn Welses Warnung nicht bedurft, um uns zu sagen, welche Verantwortung wir trugen!
Denn Sie hatten Unrecht, Herr Welse! Es gibt ein Notgesetz für Alaska, unter dessen Schutz unser Gerichtshof tagt. Fünfhundert Meilen im Kreis von der nächsten Behörde ist ein Gericht wie das unsere befugt, Urteile zu fällen und zu vollziehen, wenn die Gefahr besteht, dass ein Verbrecher sich der gerechten Strafe entzieht. Wie groß in unserem Fall die Gefahr war, das haben gerade Sie, Herr Welse, und der französische Baron uns bewiesen. Was Sie getan haben, war ein Eingriff in die Maschinerie der Justiz. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Wir wissen, dass auch Sie glaubten, der Gerechtigkeit zu dienen, und ich jedenfalls werde keine Anklage gegen Sie erheben. Ich komme auf meine Frage zurück: warum haben Sie, Gregory St. Vincent, der Wahrheit nicht früher die Ehre gegeben? Die Ohren Ihrer Richter standen offen für Ihre Verteidigung! Sie waren nicht allein, nicht verlassen, denn neben Ihnen wachte in Fräulein Welse ein Anwalt, wie Sie ihn besser sich nicht wünschen konnten!«
»Deshalb grade! … Weil Fräulein Welse mich verteidigte, nur deshalb habe ich die Wahrheit nicht gesprochen.«
In diesem Augenblick war Gregory St. Vincent keine schlotternde Memme und kein weinendes Kind mehr, zum ersten Mal bekannte er wie ein tapferer Mann:
»Weil ich in ihren Augen kein Feigling sein wollte …«
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La Flitche sagte aus, der sehnige, zungengewandte Halbindianer, der der Natur so nahe war wie ein Tier des Landes, und dessen Verstand scharf war wie der eines weißen Mannes.
»Der Mann heißt Gau«, verkündete er. »Er spricht die Wahrheit. Er kommt vom Weißen Fluss. Er versteht nichts – er wundert sich sehr über all die weißen Männer. Er hat nie geglaubt, dass es so viele weiße Männer auf der Welt gebe. Er stirbt bald, und sein Name ist Gau.
Vor langer Zeit – es ist ganze drei Jahre her – kommt John Borg in das Land dieses Mannes. Er jagt, er bringt viel Fleisch ins Lager, und deshalb haben die Sticks am Weißen Fluss ihn gern.
Gau hat eine Frau, Pisk-ku. Nach einiger Zeit trifft John Borg Anstalten zur Abreise. Er geht zu Gau, und er sagt: ›Gib mir deine Frau. Wir wollen einen Handel machen. Ich will dir viele Dinge für sie geben.‹ Aber Gau sagt nein. Pisk-ku sei eine gute Frau, und keine Frau könne Mokassins nähen wie sie. Sie sei auch tüchtig im Gerben von Elchhäuten und mache das weicheste Leder. Er habe Pisk-ku gern. Da sagt John Borg, das sei ihm einerlei, er wolle Pisk-ku haben. Dann prügeln sie sich, eine richtige Prügelei, und Pisk-ku geht weg mit John Borg. Pisk-ku wollte nicht gehen, tut es aber doch. Borg nennt sie Bella und gibt ihr viele gute Sachen, aber sie hat nur Gau lieb.«
La Flitche zeigte auf die Narbe, die quer über Stirn und Augen des Indianers lief. »Das hat John Borg getan.
Lange ist Gau sehr nahe am Sterben. Dann wird er gesund, aber sein Kopf ist krank. Er erkennt niemand, ist ganz wie ein kleines Kind, genau so. Da, eines Tages, eins zwei drei, springt etwas in seinem Kopfe, und er wird gesund. Er erkennt seinen Vater und seine Mutter; er erinnert sich an Pisk-ku. Er erinnert sich an alles. Sein Vater sagt, dass John Borg den Fluss hinabgefahren ist. Da fährt Gau auch den Fluss hinab. Es ist Frühling, und das Eis ist sehr schlecht. Er fürchtet sich sehr vor all den weißen Männern, und als er hierher kommt, reist er nachts. Niemand sieht ihn, aber er sieht alle Menschen. Er ist wie eine Katze und kann im Dunkeln sehen. Dann kommt er geradeswegs nach Borgs Hütte. Er weiß nicht, wie er es gemacht hat. Er weiß nur, dass er ein Werk zu verrichten hat, ein gutes Werk.«
St. Vincent drückte Frona die Hand, aber sie riss sich los und trat einige Schritte zurück.
»Er sieht, wie Pisk-ku die Hunde füttert, und er spricht mit ihr. In der Nacht kommt er, und sie öffnet ihm die Tür. Was nachher geschieht, wisst ihr selbst. Borg tötete Bella; Gau tötete Borg. Borg tötete Gau, denn Gau stirbt bald. Borg hat einen starken Arm. Gau ist innen krank – ganz kaputt geschlagen. Gau ist alles einerlei. Pisk-ku ist tot. Dann geht er über das Eis ans Ufer. Ich sage, dass ihr anderen alle sagt, es ist unmöglich, dass niemand zu dieser Zeit hinausgehen kann. Er lacht und sagt, dass es so ist, und was so ist, das muss sein. Er ist krank inwendig, und schließlich kann er nicht mehr gehen, er kriecht. Es dauert lange, bis er an den Steward kommt. Er kann nicht mehr gehen, und so legt er sich nieder, um zu sterben. Zwei weiße Männer finden ihn und bringen ihn hierher. Ihm ist es einerlei; er muss auf alle Fälle sterben.«
La Flitche schwieg, aber keiner sagte etwas. Da fügte er hinzu: »Ich finde, dass Gau ein verdammt guter Mann ist!«
Frona trat zu Jacob Welse. »Bring mich fort, Vater«, sagte sie. »Ich bin so müde.«
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Am nächsten Morgen hackte Jacob Welse, Millionär und Goldkönig, vor seinem Zelt das Holz, das im Laufe des Tages gebraucht wurde. Dann steckte er sich eine Zigarre an und ging Baron Courbertin besuchen. Frona wusch das Frühstücksgeschirr auf, hängte die Schlafsäcke in die Sonne und fütterte die Hunde. Danach nahm sie ein Buch und setzte sich auf zwei umgestürzte Kiefernstämme, die eine Art Bank bildeten. Aber sie öffnete das Buch nicht. Ihr Blick schweifte über den Yukon hin, suchte den Stromwirbel und den Felsen, den zu erreichen sie vorgestern mit Corliss und dem Schotten so verzweifelt gekämpft hatte.
Wie viel seitdem geschehen war! Wie fern dieser Tag heute schon lag! War sie es wirklich selbst gewesen, die den Tod schon auf der Schulter gefühlt, den schäumenden Tod im eisigen Wasser? Um ein Nichts war es doch gegangen, um das Leben eines fremden Indianers … Hier hatten Mord und Wut getobt, hier hatte man die Schlinge schon um den Hals eines Unschuldigen gelegt, während sie und zwei Männer, drei junge, starke, nützliche Menschen, ihr Leben einsetzten für das eines Unbekannten.
Der Vater hatte ihr mitgeteilt, welche Nachricht der von ihr gerettete Indianer gebracht hatte. Es waren wichtige Entscheidungen in Dawson zu treffen, Fragen, die sich brieflich nicht erledigen ließen. Noch dieser eine