Ein Auto, das wahrscheinlich schon von Cäsar als hoffnungslos veraltet abgelehnt worden wäre, tauchte im Reigen des »Veteranen-Corsos« auf. Ratternd und asthmatisch schnaufend rollte der offene Wagen an den völlig verdutzten Zuschauern vorüber, eingehüllt in blaue Wolken, die nicht nur aus dem Auspuff stammten.
Der Motor klopfte schon nicht mehr. Unter der eckigen Haube schien sich ein Hammerwerk in voller Aktion zu befinden, das kurz vor einer Explosion stand. Die Karosse war längst in Schwingungen geraten und ließ die langen Kutschwagenfedern auf und ab hüpfen. Die Insassen dieser Art Riesenwiege zeigten dennoch Haltung, Vornehmheit und Würde.
Am Steuer saß eine majestätisch aussehende Dame, die gut und gern ihre sechzig Jahre hinter sich hatte. Sie hatte sich ihren breitrandigen Hut mit einem Tuch unter dem energischen Kinn festgebunden, um dem Fahrtwind zu trotzen. Hin und wieder nahm die kühne Fahrerin ihre Lorgnette hoch und beobachtete durch die Gläser den weiteren Verlauf der Fahrbahn.
Sobald die Dame am Lenkrad sich über den Kurs klar war, nahm sie abrupte Korrekturen des Schnauferls vor, was bei den zahlreichen Zuschauern prompt einiges Entsetzen auslöste. Der Veteran auf Rädern schwenkte dann auf die Mauern zu, die die Straße säumten, und brachte sie ins Wanken.
Doch die Fahrerin beherrschte ihr Auto und zwang das Schnauferl durch geschickte Bremsmanöver zurück auf die Straßenmitte, steuerte gegen und nickte nach solch geglückten Unternehmungen ihrem Beifahrer triumphierend zu.
Der Begleiter der Dame paßte in diesen Wagen, doch er übertrieb seine Anpassungsfähigkeit ein wenig. Mit dem Bambusgriff eines altväterlich gebundenen Regenschirms hielt er seine schwarze Melone auf dem Kopf fest, eine Maßnahme, die eigentlich durch nichts gerechtfertigt wurde, denn der Oldtimer fuhr mehr als langsam.
Der Beifahrer trug einen schwarzen Zweireiher, einen Eckkragen und eine schwarze Krawatte, die alles andere als modisch geschlungen war. Er zeigte ein ausdrucksloses Pokergesicht und saß stocksteif auf seinem Sitz, als habe er einen Ladestock verschluckt.
Die energische Fahrerin, die an die Walküre aus einer Wagneroper erinnerte, schaltete so. etwas wie einen Schnellgang ein. Das ging nicht ohne ein ausgiebiges und verdächtiges Krachen und Schleifen vor sich. Danach blieb das Schnauferl einen Moment stehen, sammelte sich offenbar und machte dann einen gewaltigen Satz nach vorn. Mit einem deutlichen Plus von etwa anderthalb Kilometer pro Stunde jagte das betagte Fahrzeug weiter.
Die Zuschauer an den Straßenrändern belohnten diese Tat mit begeistertem Beifall und hielten anschließend den Atem an, um von den Auspuffwolken nicht erstickt zu werden. Der Oldtimer entschwand ihren Blicken und bog auf die Landstraße ein.
Das eigentliche Rennen hatte begonnen!
Lady Agatha Simpson hatte sich auf dieses Rennen sorgfältig vorbereitet.
Es wurde vom Royal Automobile Club von Großbritannien ausgerichtet und stellte eine Neuauflage jenes denkwürdigen Rennens dar, das in grauer Vorzeit schon mal veranstaltet worden war. Damals war das Auto erst salonfähig geworden und schickte
sich an, die Straßen der Welt zu erobern.
Teilnehmen an der jetzigen Rallye durften nur Wagen aus jener Zeit, Automobilmarken, die nur noch Legende waren. Sie mußten sich selbstverständlich im Urzustand befinden und durften auf keinen Fall durch technische Tricks modernisiert worden sein.
Diese Oldtimer-Rennen hatten es in sich, was die Streckenführung anbetraf. Sie verlangte den Veteranen auf Rädern und ihren Fahrern alles ab. Sie führte von dem kleinen Städtchen Kew bei London über Richmond Kingston, Staines, Windsor und Maidenhead bis nach Oxford. Die Strecke entsprach einer Länge von fast 110 Kilometern, für die Veteranen eine fast schon unglaublich lange Distanz. Sie führte in weitem Bogen entlang der Themse und bot landschaftlich einmalig schöne Ausblicke.
Lady Agatha war von der ersten Sekunde an vom Ehrgeiz erfaßt worden. Sie wollte dieses Rennen unbedingt gewinnen und setzte all ihre Hoffnungen auf den Oldtimer, der sich seit Jahren schon in ihrem Besitz befand. Es handelte sich um einen Grand-Victor, eine Marke, die nur noch in speziellen technischen Handbüchern geführt wurde.
Die Räder und Speichen dieses Vehikels waren noch aus Holz gefertigt, die Reifen bestanden aus Hartgummi. Der Komfort war nicht gerade üppig, denn eine harte Holzbank schien dagegen weich und nachgiebig zu sein. Das alles ignorierte die ältere Dame jedoch. Sie hatte sich inzwischen eine uralte, aber passende Fahrerbrille aufgesetzt und beobachtete die Fahrbahn. Sie brauste mit dem Wagen in eine sanfte Kurve, die sich weit hinzog. Das Durchschnittstempo des Grand-Victor betrug nämlich nicht mehr als vielleicht zwölf bis fünfzehn Kilometer pro Stunde.
»Wo bleiben die Angaben, Mr. Parker? herrschte sie ihren Beifahrer an.
»Mylady haben besondere Wünsche?« erkundigte sich Josuah Parker, seit Jahr und Tag bereits als Butler in Diensten der Lady tätig.
»Wie nehme ich die Kurve, Mr. Parker! Wozu haben Sie sich schließlich das ›Gebetbuch‹ angelegt?«
Mylady sprach damit einen Brauch echter Rallyefahrer an, deren Beifahrer tatsächlich über ein »Gebetbuch« oder über eine »Bibel« verfügten. In diesen Büchern sind die zu fahrenden Strecken fast metergenau aufgezeichnet und enthalten detaillierte Angaben, die sich auf das jeweilige Tempo oder Schalten beziehen. Die Beifahrer »beten« diesen Text herunter und informieren so den Fahrer über das, was er zu tun und wie er zu fahren hat.
Solch ein Gebetbuch hatte auch Josuah Parker anlegen müssen, obwohl er es wegen der zu erreichenden Geschwindigkeit für völlig sinn- und nutzlos hielt. Lady Agatha bestand auf Informationen, die der Butler jetzt lieferte.
»Dreißig Grad Rechtskurve«, ›betete‹ Parker also herunter, wobei er sich äußerst albern vorkam. »Volle Geschwindigkeit, Mylady, aber bitte, den Motor möglichst nicht überdrehen.«
Parker dachte natürlich an die Schwachbrüstigkeit und Empfindlichkeit des ehrwürdig alten Motors, doch Lady Agatha stieß eine Art Jauchzer aus und gab Vollgas.
Der Oldtimer tuckerte auf die Rechtskurve zu, hoppelte dabei wie ein liebestoller Hase und entwickelte bedenkliche Tonfrequenzen.
»Festhalten, Mr. Parker«, rief Agatha Simpson und zog den Oldtimer endlich konsequent in die harmlose Rechtskurve, deren Einfahrt allerdings durch hochstehende Sträucher verdeckt wurde.
Parker tat Lady Agatha den Gefallen und hielt sich mit seinen schwarz behandschuhten Händen vorn an der versilberten Griffstange fest. Dazu legte er sich noch stilgerecht und ein wenig übertrieben in die Kurve.
Sekunden später ließ der Butler sich allerdings weniger stilgerecht vorn auf der eckigen Kühlerhaube nieder und suchte verzweifelt nach einem passenden Halt. Da er ihn nicht fand, rutschte er von der Kühlerhaube ab und landete auf dem links im Kotflügel stehenden Ersatzrad.
Lady Agatha schaute mißbilligend nach ihrem Butler und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
»Was soll denn das?« fragte sie grollend, während sie sich die schwere, altertümliche Fahrerbrille auf die Stirn schob. »Sie übertreiben wieder mal.«
Butler Parker verzichtete auf eine Antwort.
Er sah auf die Gestalt, die regungslos neben einem Oldtimer auf der Straße lag, Parker hatte den dringenden Verdacht, daß dieser Fahrer bereits tot war.
*
»Ich begreife das nicht«, sagte der »Tote«, der einen leicht verwirrten Eindruck machte. »Ich bekam plötzlich einen Schlag auf den Hinterkopf. Mehr weiß ich eigentlich nicht.«
»Das ist aber nicht viel«, stellte Lady Simpson grimmig fest. »Geschah das während der Fahrt?«
»Bei Vollgas sogar«, antwortete der Fahrer. »Es muß sich um mindestens zwanzig Kilometer pro Stunde gehandelt haben.«
»Jetzt übertreiben Sie aber«, reagierte Lady Agatha sichtlich ironisch. »Ihr Vanguard schafft doch höchstens noch zehn Kilometer.«
»Ich widerspreche entschieden«, entrüstete sich der vermeintliche Tote, der wieder einen sehr lebendigen Eindruck machte. »Das gilt vielleicht für Ihren Victor, Mylady, aber nicht