Wie wird jemand ein amerikanischer Nazi? Welche Komponenten müssen da zusammenkommen? Nehmen wir den Casus Rockwell.1 Bei ihm finden wir eine Melange aus religiöser Überzeugung und Idealismus, die sich nicht anders umzusetzen vermag als in einer polterigen Artikulation von Antisemitismus, weißem Supremazismus und Eugenik. Nun garantiert Poltern ja Aufmerksamkeit. Möglicherweise haben wir hier den Schlüssel: das Bedürfnis, Aufmerksamkeit zu erregen, sich zur Schau zu stellen. In Letzterem verrät sich vielleicht das familiäre Erbe: Beide Eltern arbeiteten am Theater. George Lincoln Rockwell wurde am 9. März 1918 in Bloomington/Illinois geboren. Der Vater, George Lovejoy Rockwell, englisch-schottischer Abstammung, war als »Old Doc Rockwell« ein gefragter Variété-Komiker, zu sehen auf den führenden Bühnen des Landes, so am Broadway; der Rundfunk verhalf ihm zu weiterer Prominenz. 1915 heiratete er Claire Schade, eine junge Spitzentänzerin deutsch-französischer Herkunft, die damals gemeinsam mit Eltern und Schwester die Variété-Balletttruppe »The Four Schades« bildete. 1918 bekamen George und Claire ihr erstes Kind, George Lincoln. Neun Jahre später trennte sich das Paar. Der kleine George lebte nach der Scheidung seiner Eltern teils bei der Mutter auf dem Land in Illinois, teils beim Vater in der mondänen Ostküstenstadt Boothbay Harbor/Maine. Der bekannte Mime führte dort ein gastfreies Haus und lud immer wieder bedeutsame Künstler-Kollegen ein, darunter Fred Allen, Benny Goodman und Groucho Marx. Dass die beiden Letzteren Juden waren, störte Rockwell senior offenbar nicht.
Rockwell junior erlangte die Hochschulreife im Internat Hebron Academy nahe Lewiston/Maine und studierte ab 1938 an der Brown University in Providence/Rhode Island (Nordwesten der USA), wo er Philosophie und Soziologie belegte. Bald zeigte er sich von den Gesellschaftswissenschaften abgestoßen; die egalitäre Attitüde, die damals in ihnen obwaltete, und die liberale Haltung der Dozenten passten ihm nicht. Später nannte er den Liberalismus die »schwachbrüstige kleine Schwester« des Kommunismus. Seine Noten waren nicht unbedingt brillant; dennoch konnte er sich in bescheidenem Rahmen profilieren, und zwar als Grafiker und Illustrator der Campuszeitung Sir Brown. Seine Beiträge reichten von Witzzeichnungen bis zu gewaltschwangeren Horrorcomics, die vor allem Zerstörung zeigten, namentlich Bombardements.2 Der Krieg bot ihm eine willkommene Gelegenheit, den Zwängen des ungeliebten Studiums zu entfliehen. Kurzzeitig ließ er sich von der antideutschen Welle innerhalb der öffentlichen Meinung mitreißen. Den unsicheren, nervösen, fahrigen jungen Mann drängte es zur Aktion. Er meldete sich 1941 zur Navy (der US-Marine), erwarb zusätzlich das Pilotenabzeichen und landete so bei der Seeluftflotte. Er flog zahlreiche Einsätze gegen deutsche U-Boote im Südatlantik und im Südpazifik; im August 1944 leitete er die Luftunterstützung während der Schlacht um Guadalcanal (östlich von Neuguinea) und der Invasion von Guam (nördlich von Neuguinea). Im Oktober 1945 schließlich entließ ihn die Armee mit diversen Auszeichnungen im Rang eines Korvettenkapitäns.3
Inzwischen hatte Rockwell auch geheiratet, eine Bekanntschaft aus seiner Universitätszeit. Nach seiner Demobilisierung entsann er sich erst einmal seines künstlerischen Talentes und mühte sich fünf Jahre, es zu seinem Beruf zu machen – nicht ganz erfolglos. Er besuchte das Pratt Institute, eine renommierte Kunsthochschule in New York, und bot schon bald seine Dienste der Werbung an. Auf diesem Gebiet arbeitete er eine Weile als Maler, Grafiker und Fotograf in den Staaten Maine und New York, besaß kurzfristig gar eine eigene Agentur und einen eigenen Verlag. 1948 beteiligte sich Rockwell an dem Wettbewerb, den die größte Förderungsgesellschaft für Illustratoren, die »Society of Illustrators«, jährlich US-weit ausrichtet, und gewann einen mit 1000 Dollar dotierten Preis. Eine viel versprechende Karriere als Werbekünstler hätte hier beginnen können – wäre nicht 1950 wieder ein Krieg dazwischen gekommen. Diesmal hieß der Feind Nordkorea. Rockwell ging zurück in den aktiven Dienst und trainierte Kampfpiloten in Südkalifornien. Der Koreakrieg entfachte in ihm permanenten Hass auf den Kommunismus und die paranoide Furcht, dieser könnte die USA unterminieren.4
Mit dieser Geisteshaltung begann George Rockwell in den frühen 50er-Jahren sein politisches Engagement. Seine erste große Leitfigur wurde General Douglas MacArthur, der Held des Koreakrieges; als dieser die Absicht bekundete, Präsident der USA zu werden, beteiligte sich Rockwell an der Wahlkampagne. Eine zweite Persönlichkeit, die ihn stark faszinierte und zum aktiven Einstieg in die Politik trieb, war Joseph McCarthy, republikanischer Senator des Staates Wisconsin, der im US-Kongress unermüdlich vor kommunistischer Unterwanderung warnte. Freilich erntete er lebhaften Widerspruch, besonders in weiten Teilen der Medien, was in George Rockwell tiefstes Unbehagen auslöste: Wer solch einen wackeren Mahner attackiere, so seine Meinung, könne keine redlichen Motive haben. Eine alte Dame in San Diego/Kalifornien, die ebenfalls bei der Wahlkampagne für den Kriegshelden mitarbeitete, zeigte ihm Zeitungen, die MacArthur und McCarthy besonders heftig schmähten und die von Juden kontrolliert seien. Daneben empfahl die Dame weiterführende Lektüre, so die Reden McCarthys und die Zeitschrift Common Sense (»Gemeinsinn«) des rechtsextremen Publizisten Conde McGinley, welche Bestürzendes über jüdisch-kommunistische Machenschaften zu berichten wusste, die laut Ansicht der Autoren hinter allen dramatischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts steckten. Ferner solle er, riet die Dame, unbedingt einmal Gerald L. K. Smith reden hören. Der sei zwar schon etwas betagt, vertrete die gemeinsame Sache aber mit rhetorischer Bravour; er spreche demnächst in Los Angeles. Rockwell fuhr hin und lauschte den antisemitischen Tiraden des greisen Volksverhetzers. Er war fasziniert von der emotionalen Verve, mit der Smith die »jüdische Verschwörung« und den »Griff des Judentums nach der Weltmacht« schilderte.5 Entsetzlich, wie wenig diese Gefahr doch wahrgenommen wurde! Er selbst jedenfalls wollte mehr darüber erfahren und vertiefte seine einschlägigen Kenntnisse in der Stadtbücherei von San Diego. Je mehr er las, desto mehr glaubte er an die Existenz einer jüdisch-kommunistischen Weltverschwörung. Vor allem zwei Dinge machten Rockwell perplex: zunächst die Enormität der Verschwörung selbst, nicht minder aber das Schweigen, das offizielle Politik und Medien darüber breiteten; wurde die Konspiration doch einmal erwähnt, dann, schien ihm, nur, um deren Existenz beharrlich zu leugnen. In den dunklen Regalschluchten der Stadtbücherei von San Diego erlebte George Rockwell eine Erleuchtung, sein politisches Erwachen. Längst schon hatte er empfunden, dass die Welt aus den Fugen und Unheil im Gange war – nun jedoch, das spürte er ganz deutlich, hielt er den Schlüssel zu Vergangenheit und Gegenwart in Händen. Aber wie sollte man gegen ein so monströses und weltweit agierendes Komplott kämpfen, noch dazu, wenn die eigene Regierung dermaßen töricht handelte? Angesichts der ungeheuerlichen Gefährlichkeit der jüdischen Weltverschwörung verstand Rockwell nicht mehr recht, warum Amerika sich mit der kommunistischen Sowjetunion gegen das »christliche Deutschland« verbündet hatte, »das nie [hier bei uns] einen Spion in Führungspositionen einschleuste und auch nie die Welt zu erobern begehrte«. So betrachtet musste Adolf Hitler mit seinem Kreuzzug gegen das Weltjudentum und den Kommunismus wie ein Verwandter im Geiste wirken. Hitler, so drängte sich Rockwell auf, hat die jüdische Bedrohung seit Beginn seiner politischen Karriere richtig eingeschätzt. Kein Wunder, dass die Juden seine Beseitigung anstrebten. Um ihrer eigenen Interessen willen haben sie England und Amerika in einen blutigen Konflikt mit dem deutschen Führer getrieben. Im Frühjahr 1951 fand Rockwell ein Exemplar von Mein Kampf in einem Buchladen vor Ort; er kaufte die Schrift, las sie – und sah die Welt neu:
»Mir war, als wäre in meinem Geist eine Sonne aufgegangen, die verschwenderisch ihren Glanz ausgoss und die graue Welt jäh in das helle Licht des Begreifens und Durchschauens tauchte. Wort für Wort, Satz für Satz stieß die Erkenntnis in das Dunkel voran gleich einem Gewitter