«Nein, hier ist es unerträglich heiß», sagte Miss Crawford, als sie einmal die Terrasse auf und ab spaziert waren und sich jetzt zum zweitenmal der Tür in der Mitte des Eisenzaunes näherten, die in die «Wildnis» hinunterführte.
«Hat jemand etwas dagegen, daß wir es uns gemütlicher machen? Dort unten wäre ein hübsches, schattiges Wäldchen, wenn man nur hineinkommen könnte. Wie schön, wenn die Tür nicht versperrt wäre! Das wird sie aber natürlich sein, denn auf diesen großartigen Herrensitzen sind die Gärtner die einzigen, die hingehen dürfen, wo sie Lust haben.»
Die Tür war jedoch nicht verschlossen, und die beiden anderen stimmten freudig Miss Crawfords Vorschlag zu, der unerbittlichen Sonnenglut der Terrasse zu entfliehen. Über eine beträchtliche Anzahl von Stufen gelangten sie in die sogenannte Wildnis hinab, die in Wirklichkeit ein etwa zwei Morgen großer Wald war, der zwar hauptsächlich aus sorgfältig gestutzten Lärchen, Birken und Lorbeeren bestand und allzu regelmäßig angelegt war, aber im Vergleich zu der Schattenlosigkeit der Spielwiese und der Terrasse erquickende Kühle und Natürlichkeit atmete. Sie genossen dankbar die Erfrischung und gaben sich eine Weile lang nur ihrer Freude und Bewunderung hin, bis Miss Crawford nach kurzem Schweigen begann: «Sie werden also bald ein Pfarrherr sein, Mr. Bertram. Das ist für mich eine nicht geringe Überraschung.»
«Was ist daran überraschend? Sie mußten ja annehmen, ich sei für irgendeinen Beruf bestimmt, und Sie konnten leicht merken, daß ich weder Jurist noch Offizier noch Seemann bin.»
«Ja, richtig, aber – kurz gesagt, ich bin nicht auf die Idee gekommen. Und Sie wissen ja, gewöhnlich ist irgendein Onkel oder Großvater vorhanden, der dem zweiten Sohn sein Vermögen hinterläßt.»
«Eine sehr löbliche Sitte», sagte Edmund, «aber leider nicht allgemein eingeführt. Ich gehöre zu den Ausnahmen und muß mir mein Brot selber verdienen.»
«Aber warum gerade als Pfarrer? Ich dachte immer, das wäre das Los des Jüngsten unter vielen Brüdern, die ihm alle anderen Berufe weggeschnappt haben.»
«Sie glauben also, daß die Kirche niemals um ihrer selbst willen gewählt wird?»
«‹Niemals› ist ein düsteres Wort. Und doch – in dem Sinn, wie man es in der Konversation gebraucht, wo ‹niemals› ‹nicht sehr oft› bedeutet, glaube ich es wirklich. Was für Aussichten bietet die Kirche? Jeder Mann wünscht, sich auszuzeichnen, Ehren zu erringen, und das ist in jeder anderen Laufbahn möglich, nur nicht in der geistlichen. Ein Geistlicher ist gar nichts.»
«Ich hoffe, das ‹nichts› der Konversation hat seine besonderen Nuancen so gut wie das ‹niemals›. Ein Geistlicher kann keinen äußeren Glanz entfalten, das stimmt. Er darf sich nicht an die Spitze eines Pöbelhaufens stellen oder neue Modetorheiten erfinden. Aber ich kann einen Stand nicht mit ‹nichts› bezeichnen, in dessen Obhut alles gegeben ist, was für den einzelnen wie für die ganze Menschheit, zeitlich wie ewig betrachtet, das Allerwichtigste ist – einen Stand, dem die Sorge um Religion und Moral anvertraut ist und damit auch um die Gesittung, die sich auf beide gründet. Das Amt des Geistlichen kann niemand als ‹nichts› ansehen. Wenn der Mann, der es auszufüllen hat, ‹nichts› ist, dann nur, weil er seine Pflicht vernachlässigt, weil er die wahre Bedeutung seines Berufs nicht erfaßt und die ihm gezogene Grenze überschreitet, um zu scheinen, was er nicht sein sollte.»
«Sie schreiben dem Geistlichen einen größeren Einfluß zu, als man es gemeinhin tut, und ich begreife nicht recht warum. In der Gesellschaft merkt man nur sehr wenig von dem Einfluß und der Bedeutung, die Sie rühmen, und wie könnte es anders sein? Wie sollten zwei Predigten pro Woche – gesetzt sogar, daß sie hörenswert sind, weil der Herr Pfarrer den Verstand hat, die gedruckten Predigten von Blair seinem eigenen Machwerk vorzuziehen – wie sollten diese zwei Predigten all das bewirken, was Sie behaupten, wie können sie die Lebensführung und die Sitten einer großen Gemeinde für die ganze restliche Woche beeinflussen? Und außerhalb der Kanzel bekommt man den Pfarrer selten zu Gesicht.»
«Sie sprechen von London, ich spreche von der Nation in ihrer Gesamtheit.»
«Die Hauptstadt sollte doch ein halbwegs richtiges Bild vom übrigen Land geben.»
«Nicht, was das Verhältnis von Tugend und Laster anbelangt – das will ich wenigstens hoffen. In puncto Moral stehen die großen Städte nicht an der Spitze, und der Einfluß der Geistlichen – wie übrigens aller anständigen Menschen – macht sich gerade dort am wenigsten bemerkbar. Ein glänzender Prediger findet Anhänger und Bewunderer, aber ein rechter Pfarrer dient seiner Gemeinde und der ganzen Umgegend nicht nur durch glänzende Predigten. Freilich muß die Gemeinde klein genug sein, daß sie ihn als Menschen kennen und seine ganze Lebensführung beobachten kann, und das eben ist in London selten der Fall. Dort verschwindet der Geistliche in der Masse seiner Pfarrkinder; die allermeisten kennen ihn nur als Prediger. Und was den Einfluß auf die allgemeinen Sitten betrifft, darf Miss Crawford mich nicht mißverstehen. Ich will damit nicht sagen, daß unsere Pfarrer in Fragen des feinen Geschmacks und des gesellschaftlichen Raffinements maßgebend sind oder der eleganten Welt als Zeremonienmeister dienen könnten. Wenn ich von Sitten spreche, so meine ich damit die Gesittung, die Lebensführung, die sich aus den richtigen Grundsätzen ergibt, kurz die Auswirkung jener Lehre, die zu verbreiten und zu vertreten die erste Pflicht des Geistlichen ist. Und ich glaube, wohin man auch kommt, wird man eines sehen: wo die Geistlichen so sind, wie sie sein sollen, ist es auch das übrige Volk, und wo sie nicht ihre Pflicht erfüllen, tun es auch die anderen nicht.»
«Ganz bestimmt», sagte Fanny ernsthaft.
«Da haben wir es!» rief Miss Crawford. «Miss Price haben Sie bereits überzeugt.»
«Ich wollte, ich könnte auch Miss Crawford überzeugen.» «Ich glaube nicht, daß Ihnen das je gelingen wird», sagte sie mit schelmischem Lächeln. «Daß Sie die Absicht haben, Pfarrer zu werden, erstaunt mich noch immer genau so sehr wie im ersten Augenblick. Sie sind wirklich für etwas Besseres geschaffen. Kommen Sie, überlegen Sie sich die Sache noch einmal! Gehen Sie unter die Juristen.»
«Gehen Sie unter die Juristen! Ganz einfach, als ob Sie mich auffordern würden, hier in die ‹Wildnis› zu gehen.»
«So, jetzt werden Sie gleich sagen, daß die Juristerei die ärgere Wildnis ist, aber ich bin Ihnen zuvorgekommen! Leugnen Sie nicht, daß ich es zuerst gesagt habe!»
«Wenn Sie einem geistreichen Ausspruch von mir zuvorkommen wollen, brauchen Sie sich nicht zu beeilen, denn es besteht keine Gefahr, daß ich ein Bonmot von mir gebe. Witz und Schlagfertigkeit sind nicht meine starken Seiten. Ich bin ein nüchterner, einfacher Geselle, der nichts versteht, als seine Meinung geradeheraus zu sagen.»
Ein allgemeines Schweigen folgte. Alle waren nachdenklich geworden. Fanny unterbrach als erste die Stille: