Max. Ade Verlorene. (Wie oben.) »Warst ein süßes, liebes Ding –«
Anatol (träumerisch fortfahrend). »Mädel mit den zerstochenen Fingern.«
Max. Das war Cora – nicht?
Anatol. Ja – du hast sie ja gekannt.
Max. Weißt du, was aus ihr geworden ist?
Anatol. Ich habe sie später wieder getroffen – als Gattin eines Tischlermeisters.
Max. Wahrhaftig!
Anatol. Ja, so enden diese Mädel mit den zerstochenen Fingern. In der Stadt werden sie geliebt und in der Vorstadt geheiratet ... 's war ein Schatz!
Max. Fahr wohl –! Und was ist das? ... »Episode« – da ist ja nichts darin? ... Staub!
Anatol (das Kuvert in die Hand nehmend). Staub –? Das war einmal eine Blume!
Max. Was bedeutet das: Episode?
Anatol. Ach nichts; so ein zufälliger Gedanke. Es war nur eine Episode, ein Roman von zwei Stunden ... nichts! ... Ja, Staub! – Daß von so viel Süßigkeit nichts anderes zurückbleibt, ist eigentlich traurig. – Nicht?
Max. Ja, gewiß ist das traurig ... Aber wie kamst du zu dem Worte? Du hättest es doch überall hinschreiben können?
Anatol. Jawohl; aber niemals kam es mir zu Bewußtsein wie damals. Häufig, wenn ich mit der oder jener zusammen war, besonders in früherer Zeit, wo ich noch sehr Großes von mir dachte, da lag es mir auf den Lippen: Du armes Kind – du armes Kind –!
Max. Wieso?
Anatol. Nun, ich kam mir so vor, wie einer von den Gewaltigen des Geistes. Diese Mädchen und Frauen – ich zermalmte sie unter meinen ehernen Schritten, mit denen ich über die Erde wandelte. Weltgesetz, dachte ich – ich muß über euch hinweg.
Max. Du warst der Sturmwind, der die Blüten wegfegte ... nicht?
Anatol. Ja! So brauste ich dahin. Darum dachte ich eben: Du armes, armes Kind. Ich habe mich eigentlich getäuscht. Ich weiß heute, daß ich nicht zu den Großen gehöre, und was gerade so traurig ist – ich habe mich darein gefunden. Aber damals!
Max. Nun, und die Episode?
Anatol. Ja, das war eben auch so ... Das war so ein Wesen, das ich auf meinem Wege fand.
Max. Und zermalmte.
Anatol. Du, wenn ich mir's überlege, so scheint mir: Die habe ich wirklich zermalmt.
Max. Ah!
Anatol. Ja, höre nur. Es ist eigentlich das Schönste von allem, was ich erlebt habe ... Ich kann es dir gar nicht erzählen.
Max. Warum?
Anatol. Weil die Geschichte so gewöhnlich ist als nur möglich ... Es ist ... nichts. Du kannst das Schöne gar nicht herausempfinden. Das Geheimnis der ganzen Sache ist, daß ich's erlebt habe.
Max. Nun–?
Anatol. Also da sitze ich vor meinem Klavier ... In dem kleinen Zimmer war es, das ich damals bewohnte ... Abend ... Ich kenne sie seit zwei Stunden ... Meine grün– rote Ampel brennt – ich erwähne die grün–rote Ampel; sie gehört auch dazu.
Max. Nun?
Anatol. Nun! Also ich am Klavier. Sie – zu meinen Füßen, so daß ich das Pedal nicht greifen konnte. Ihr Kopf liegt in meinem Schoß, und ihre verwirrten Haare funkeln grün und rot von der Ampel. Ich phantasiere auf dem Flügel, aber nur mit der linken Hand; meine rechte hat sie an ihre Lippen gedrückt ...
Max. Nun?
Anatol. Immer mit deinem erwartungsvollen »Nun« ... Es ist eigentlich nichts weiter ... Ich kenne sie also seit zwei Stunden, ich weiß auch, daß ich sie nach dem heutigen Abend wahrscheinlich niemals wiedersehen werde – das hat sie mir gesagt – und dabei fühle ich, daß ich in diesem Augenblick wahnsinnig geliebt werde. Das hüllt mich so ganz ein – die ganze Luft war trunken und duftete von dieser Liebe ... Verstehst du mich? (Max nickt.) – Und ich hatte wieder diesen törichten göttlichen Gedanken: Du armes – armes Kind! Das Episodenhafte der Geschichte kam mir so deutlich zum Bewußtsein. Während ich den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Hand fühlte, erlebte ich das Ganze schon in der Erinnerung. Es war eigentlich schon vorüber. Sie war wieder eine von denen gewesen, über die ich hinweg mußte. Das Wort selbst fiel mir ein, das dürre Wort: Episode. Und dabei war ich selber irgend etwas Ewiges... Ich wußte auch, daß das »arme Kind« nimmer diese Stunde aus ihrem Sinn schaffen könnte – gerade bei der wußt' ich's. Oft fühlt man es ja: Morgen früh bin ich vergessen. Aber da war es etwas anderes. Für diese, die da zu meinen Füßen lag, bedeutete ich eine Welt; ich fühlte es, mit welch einer heiligen unvergänglichen Liebe sie mich in diesem Momente umgab. Das empfindet man nämlich; ich lasse es mir nicht nehmen. Gewiß konnte sie in diesem Augenblick nichts anderes denken als mich – nur mich. Sie aber war für mich jetzt schon das Gewesene, Flüchtige, die Episode.
Max. Was war sie denn eigentlich?
Anatol. Was sie war –? Nun, du kanntest sie. – Wir haben sie eines Abends in einer lustigen Gesellschaft kennengelernt, du kanntest sie sogar schon von früher her, wie du mir damals sagtest.
Max. Nun, wer war sie denn? Ich kenne sehr viele von früher her. Du schilderst sie ja in deinem Ampellicht wie eine Märchengestalt.
Anatol. Ja – im Leben war sie das nicht. Weißt du, was sie war –? Ich zerstöre jetzt eigentlich den ganzen Nimbus.
Max. Sie war also –?
Anatol (lächelnd). Sie war – vom – vom –
Max. Vom Theater –?
Anatol. Nein – vom Zirkus.
Max. Ist's möglich!
Anatol. Ja – Bianca war es. Ich hab es dir bis heute nicht erzählt, daß ich sie wiedertraf – nach jenem Abend, an dem ich mich um sie gar nicht gekümmert hatte.
Max. Und du glaubst wirklich, daß dich Bibi geliebt hat –?
Anatol. Ja, gerade die! Acht oder zehn Tage nach jenem Feste begegneten wir uns auf der Straße ... Am Morgen darauf mußte sie mit der ganzen Gesellschaft nach Rußland.
Max. Es war also die höchste Zeit.
Anatol. Ich wußt' es ja; nun ist für dich das Ganze zerstört. Du bist eben noch nicht auf das wahre Geheimnis der Liebe gekommen.
Max. Und worin löst sich für dich das Rätsel der Frau?
Anatol. In der Stimmung.
Max. Ah – du brauchst das Halbdunkel, deine grün-rote Ampel ... dein Klavierspiel.
Anatol. Ja, das ist's. Und das macht mir das Leben so vielfältig und wandlungsreich, daß mir eine Farbe die ganze Welt verändert. Was wäre für dich, für tausend andere dieses Mädchen gewesen mit den funkelnden Haaren; was für euch diese Ampel, über die du spottest! Eine Zirkusreiterin und ein rot-grünes Glas mit einem Licht dahinter! Dann ist freilich der Zauber weg; dann kann man wohl leben, aber man wird nimmer was erleben. Ihr tappt hinein in irgendein Abenteuer, brutal, mit offenen Augen, aber mit verschlossenem Sinn, und es bleibt farblos für euch! Aus meiner Seele aber, ja, aus mir heraus blitzen tausend Lichter und Farben drüber hin, und ich kann empfinden, wo ihr nur – genießt!
Max. Ein wahrer Zauberborn, deine »Stimmung«. Alle, die du liebst, tauchen darin unter und bringen dir nun einen sonderbaren Duft von Abenteuern und Seltsamkeit mit, an dem du dich berauschest.
Anatol. Nimm es so, wenn du willst.
Max. Was nun aber deine Zirkusreiterin anbelangt, so wirst du mir schwerlich erklären können, daß sie unter der grün-roten Ampel dasselbe empfinden mußte wie