Marie am Fenster. Ich höre.
Die Tante. Du mußt dich wahrlich mit wenig genug bescheiden, wenn das der ganze Frühling ist, den du genießen darfst. Da haben wir's auf dem Lande schon besser. Pfirsich und Kirsche sind abgeblüht und nun riecht der Flieder aus allen Gärten. – Höre, Marie, ich denke, wenn es hier vorüber ist, laß alles stehen, wie es steht, und komm nur rasch zu uns in die Grünau. Dein Zimmer ist bereit.
Marie. Davon wollen wir heute noch nicht reden.
Die Tante. Dein Zimmer ist bereit, Kind. Ich denke ja, gar zu lang wirst du es nicht bewohnen. Aber immerhin, die Trauerzeit muß doch wohl verstreichen, ehe Hochzeit gemacht wird.
Marie. Wer macht Hochzeit?
Die Tante. Du brauchst mir's nicht Wort zu haben. Jeder nach seiner Weise; – deine Art ist zu schweigen. Der Adjunkt ist ein vortrefflicher Mann; ich achte ihn nicht geringer, weil er seinen Sinn geändert hat, – das ist nun einmal menschlich. Auch hat sich Katharina bald getröstet . . . ach Gott, ich glaube, allzu bald und allzu gut! Mag sie's mit dem lieben Gott ausmachen, der sie so bald zu sich nehmen wird. Ich weiß nichts, ich frage nicht, was sie allwöchentlich in der Stadt treibt, seit wir zusammen auf dem Balle waren, wo ihr mit den Offizieren tanztet. Nachts schlief sie wohl immer hier, denk' ich . . . ? – Nun, du hast jetzt den Sinn nicht darauf. Mag auch sein, daß sie sich früh davonschlich, ohne dich aufzuwecken, und du dachtest, sie sei schon abgereist.
Der Vater von drin. Marie!
Sechste Szene
Die Tante, Marie, der Arzt.
Der Arzt zu Marie, die schon bereit war, hineinzugehen. Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden. – Wollen Sie etwa so freundlich sein, Frau Richter, und sich für eine Weile hineinbemühen?
Die Tante. Freilich. Er wird mich nicht gleich totschlagen.
Der Arzt. Er wünschte, daß das Fräulein ihm wieder aus der Zeitung vorliest. Das können Sie wohl auch, Frau Richter?
Die Tante. Nun ja, ich will das Blatt nah zur Kerze halten, da wird es schon gehen. Ab links.
Siebente Szene
Der Arzt, Marie.
Der Arzt. Nun aber, liebes Fräulein, benützen Sie die Gelegenheit und gehen Sie doch in die frische Luft – auf eine Stunde wenigstens.
Marie. Wozu? Was hälfe mir diese eine Stunde?
Der Arzt. Und morgen wieder eine, und so jeden Tag. Ihr Vater wird sich daran gewöhnen müssen.
Marie. Ach, wozu? Ich habe ja gar keine Lust fortzugehen. Lassen Sie mich nur da.
Der Arzt. Es scheint, Sie haben überhaupt nicht mehr die Kraft, etwas Bestimmtes zu wollen. Wenn ich an früher denke –! Wenn ich mir das frische liebe Wesen vorstelle, das ich vor einem Jahre noch – im vergangenen Herbst noch hier zu finden pflegte . . . Es ist ein wahrer Jammer! Das muß anders werden. Versprechen Sie mir, sich heut endlich einmal zu Bett zu legen – ja? Dann wollen wir morgen früh weiterreden. Die Welt wird gleich anders aussehen, wenn Sie nur einmal mit wachen Augen in sie hineinblicken.
Marie. Er ruft mich ja doch jede halbe Stunde und schreit in meinen Schlaf hinein.
Der Arzt. Er wird seine Tropfen nehmen; – dann wird er nicht rufen können.
Marie. Er wird sie nicht nehmen.
Der Arzt. So werden Sie sie ihm geben – auch gegen seinen Willen. Es genügt, wenn Sie ihm zehn Tropfen ins Wasser träufeln. Er öffnet das Fläschchen. Dieses Mittel ist unwiderstehlich. In diesem Fläschchen ist der Schlaf von hundert Nächten.
Marie. So viel vertrauen Sie mir an?
Der Arzt etwas befremdet. Ihnen? . . . Ja, Ihnen und ihm selbst. In der Wohnung von Kranken, die zu retten sind, lasse ich nicht so viel zurück.
Marie. Haben Sie ihm je gesagt, daß er nicht zu retten ist?
Der Arzt. Ich konnte mir diese grausame Ehrlichkeit ersparen. Seine Krankheit ist von den aufrichtigen. Aber freilich kann es noch Jahre dauern, Marie.
Marie. Ich weiß.
Der Arzt. Und Sie, Marie, haben die Absicht, all diese Jahre hindurch an seinem Bette zu sitzen, ohne freie Luft zu atmen, ohne die Nächte ordentlich durchzuschlafen, – in dieser Dumpfheit und Enge auszuharren, bis es wirklich zu spät sein wird?
Marie. Was soll ich anders? Was kann ich anders?
Der Arzt. Zu spät . . . wissen Sie, was das bedeutet? Es liegen mehr Schrecken darin als in dem Worte »niemals«. Und wenn Sie es etwa für Ihre Pflicht halten hierzubleiben, nur weil dieser Mann Ihr Vater ist, so sage ich Ihnen, daß Sie höhere haben gegen sich selbst; – und der Gott, zu dem wir nicht beten, aber an den wir alle glauben müssen, straft es bitter, wenn sie verletzt werden.
Marie. Was mir höhere Pflicht ist, darüber habe ich nicht nachgedacht. Daß ich auch andere Wünsche habe, daran erinnern Sie mich in diesem Augenblicke wieder.
Der Arzt. So wollt' ich nur, diese Wünsche wachten wieder auf, zu rechter Zeit, mit der rechten Kraft.
Marie. Warum haben Sie früher nicht so zu mir gesprochen?
Der Arzt. Tat ich es nicht? . . . Wie lange schon und wie oft sag' ich Ihnen, daß ein Dasein, wie Sie es führen, Sie allmählich zugrunde richten wird, – daß Sie sich wehren müssen, daß Ihnen frische Luft und Bewegung dringend not tut.
Marie. Das, wozu Sie mich heute ermutigen wollen, scheint mir mehr als ein Spaziergang vors Tor hinaus.
Der Arzt. Ja, es mag mehr sein . . . Viel weiter hinaus möcht' ich Sie treiben. Es nagt an mir, wenn ich sehe, wie Sie . . . Sie Ihre Tage und Nächte einem alten bösen Manne hinopfern, der es Ihnen nicht dankt, – der es nicht wert ist. Bange wird mir, wenn ich denke, daß so viel Schönheit, so viel Jugend verdorren, verwelken soll . . . wofür? – Um nichts vielleicht als um ein paar Worte, die in einem alten Buche stehen.
Marie. Warum . . . warum haben Sie früher nicht so zu mir gesprochen?!
Der Arzt. Wenn Sie mich heute verstehen, ist es noch nicht zu spät gewesen.
Marie. Längst hätt' ich Sie verstanden; aber anders sprechen Sie heute zu mir – kühner, wilder beinah.
Der Arzt. Wie hätt' ich so reden dürfen noch vor kurzer Zeit?
Marie. Nicht dürfen? Sie zu mir?
Der Arzt. Es ist noch nicht so lange her, Marie, daß Sie hätten glauben dürfen, ich spräche so nicht allein in dem Gedanken an Ihre Zukunft. Und Sie hätten meinen Worten mißtraut . . . und hätten recht gehabt. Ich traute mir damals selber nicht. Heut aber wissen Sie, weiß ich selbst mich frei von jedem eigennützigen Nebengedanken, heute kann ich als Ihr Freund zu Ihnen reden und Ihnen raten.
Marie. Und was raten Sie mir als mein Freund?
Der Arzt. Daß Sie von hier fortgehen.
Marie. Wohin?
Der Arzt. Daß Sie dem Manne, der Ihnen wert ist, folgen, sobald er es verlangt.
Marie. Das ist's, was Sie mir raten –?
Der Arzt. Ja. Und ich wollte, er nähme Sie rasch von hier fort . . . morgen . . . heute noch. Mir ist angst um Sie. Wie Sie nur aussehn –! Zögern Sie nicht, wenn er das entscheidende Wort spricht. Nicht lang mehr, und ich fürchte, Sie verlieren selbst die Fähigkeit,