Dennoch war es jeden Tag wie ein neues Geschenk, daß es weiterging. Und es ging immer weiter, etwa drei Monate lang in einem Zuge. Dann hatte sich etwas von mir abgelöst und wie zu einem eigenen Dasein gerundet. Ich konnte noch nachprüfen, Einzelheiten berichtigen und ergänzen; vor allem mußte ich noch viel Literatur nachlesen und mit Hilfe dessen, was ich mir nun selbst erarbeitet hatte, kritisch erwägen. Aber das alles war nur ein Nachfeilen an einem Gebilde, das als Ganzes fertig dastand. So weit war ich wohl Ende Januar 1916. Weihnachten war, so weit ich mich erinnere, noch nicht die Hälfte niedergeschrieben, aber es war doch schon ein gutes Stück vorhanden, über das ich ganz gern einmal mit Husserl gesprochen hätte, um ein vorläufiges Urteil zu hören. Kurz vor Weihnachten kam ein Brief von Pauline Reinach: ihr Bruder käme zum Fest auf Urlaub; sie fänden es alle sehr nett, wenn ich auch nach Göttingen käme. Urlaub – damit hatte ich bisher nie gerechnet! Das Wiedersehen mit Reinach war mir bisher immer gleichbedeutend mit Frieden gewesen. Es war fast zu schön, um wirklich zu werden. Ich fragte meine Mutter, was sie zu dem Vorschlag meine. Es war ja doch auch eine Frage des Geldbeutels, zu einer so weiten Reise ohne zwingenden Grund entschloß man sich in unserer Familie nicht so leicht. Aber in diesem Fall redete mir meine Mutter sofort zu. Sie gönnte mir die große Freude des Wiedersehens von Herzen. Außerdem leuchtete es ihr ein, daß eine Aussprache mit Husserl sehr angebracht sei. Pauline Reinach war voller Bewunderung, als ich in Göttingen davon erzählte. Ihre Aufforderung war ihr, nachdem sie den Brief abgeschickt hatte, als eine starke Zumutung erschienen. Und sie selbst hätte bei ihrer Familie in Mainz keineswegs soviel Verständnis gefunden.
Da war ich nun nach fast einem Jahr Abwesenheit wieder in Göttingen. Als mir Liane Weigelt wie früher bei Tisch gegenübersaß, sagte sie: »Sie sehen noch ganz unverändert aus, Fräulein Stein.« »Das finde ich nicht«, erklärte Frau Groneweg. »Man sieht es Fräulein Stein an, daß sie den Ernst des Lebens kennengelernt hat.« Pauline wohnte vorläufig noch bei Gronewegs. Aber sie sollte bald an den Steinsgraben übersiedeln, denn Frau Reinach wollte nicht wieder fortgehen, sondern ihren Haushalt in Göttingen auch nach Reinachs Abreise weiterführen.
Am 23.Dezember hatte Reinach Geburtstag. Das war der Tag nach meiner Ankunft. Am Vormittag wurde ich am Steinsgraben erwartet. Ich kaufte ein schönes zeitgemäßes Buch als Geburtstagsgeschenk und machte mich voll froher Erwartung auf den Weg. Als ich die wohlbekannten zwei Treppen hinaufgestiegen war, sah ich schon durch die Glastür, daß alle draußen vor der Garderobe versammelt waren. Man begleitete gerade einen Gast hinaus. Es wurde geöffnet – ich trat ein und stand meinem Vetter Richard Courant gegenüber. Wir waren beide gleich überrascht. »Wie, du bist hier?«, rief er lebhaft. »Komm sofort mit mir mit; ich muß mit dir sprechen.« Ich sah Reinach hilfesuchend an. Es wäre mir sehr schwer geworden, auf der Schwelle wieder umzukehren. Aber Richard gab nicht leicht etwas auf, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Auch er wandte sich an den Hausherrn als an die oberste Instanz: »Reinach, sagen Sie ihr doch, daß sie mitgehen soll.« »Das muß sie schon selbst entscheiden.« Das hieß wohl soviel, daß ich mich in mein Schicksal ergeben müsse. Aber da kam Hilfe von einer andern Seite: Frau Reinach griff ein. »Kommen Sie doch beide heute nachmittag zu uns zum Kaffee. Husserls kommen noch außerdem und Putti Klein. Dann können Sie sich in ein anderes Zimmer zurückziehen und ganz ungestört miteinander reden, solange Sie wollen.« Das war ein so einwandfreier Vorschlag, daß Richard nichts mehr zu erwidern wußte. Er ging, wir atmeten auf und konnten uns erst jetzt richtig begrüßen. Reinach war breit und kräftig geworden, der Felddienst bekam ihm gut. Frau Reinach lernte ich eigentlich erst jetzt richtig kennen. Früher war ich ja fast nur als Studentin zu meinem Lehrer gekommen. Jetzt aber gehörte ich zum allernächsten Kreis, zu den »Trauernden erster Ordnung«, wie Reinach einmal scherzend sagte, als er sich ausmalte, wie es sein würde, wenn er fiele. Dazu rechnete er außer seiner Frau und Pauline nur Erika Gothe und mich. Erika wurde übrigens auch für einige Tage erwartet. Weihnachten wollte und mußte sie zu Hause feiern. Aber zwischen Weihnachten und Neujahr wollte sie kommen, machte also die Fahrt zwischen Göttingen und Schwerin in diesen Ferien zweimal.
Natürlich war es für Frau Reinach ein Opfer, daß sie ihren Mann in den kurzen Urlaubstagen nicht für sich allein haben konnte. Aber sie brachte es gern, da sie wußte, daß es ihrem Mann Freude machte, uns wiederzusehen. Als Erika dann da war und wir beide einen Spaziergang machten, begegneten wir den Ehepaaren Husserl und Reinach, die auch miteinander ausgingen. Es gab eine kleine Begrüßung. Ich war schon einigemal vorher bei Husserl gewesen, aber Erika hatte es in den wenigen Tagen nicht für nötig gefunden, da sie ja das ganze Semester in Göttingen zubrachte. »Fräulein Stein ist nur Herrn Reinachs wegen gekommen«, sagte Husserl neckend. (Er war überzeugt, daß ich meiner Arbeit wegen gekommen war, während ich fand, daß sein Scherz durchaus die Wahrheit traf.) »Fräulein Gothe ist auch nur Herrn Reinachs wegen gekommen«, sekundierte Frau Malvine. Nun kam wieder der gute Meister: »Was sagt denn Herr Reinach dazu?« »Ich bin ganz beschämt«, war die bescheidene Antwort. Nun aber kam die Höhe: »Was sagt denn Frau Reinach dazu?«, fragte Frau Husserl. Wir standen alle ganz bestürzt. Da ertönte es im schönsten Schwäbisch: »Ja, i kann das natürli am beschte verschtehe.« Der Bann war gebrochen. Wir verabschiedeten uns, Erika und ich gingen noch etwas niedergeschlagen heimwärts, die geschmacklosen Scherze gingen uns noch etwas nach. Da hörten wir schnelle Schritte hinter uns. Frau Reinach war uns nachgelaufen und rief jetzt ganz atemlos: »Fräulein Gothe, Fräulein Stein!« Wir drehten uns um. »Sie kommen doch beide heute abend zu uns?« Freudig sagten wir zu. Und das Entzücken über ihre natürliche Herzlichkeit und die Unbeirrbarkeit des Gefühls, die sie jeder Situation gewachsen sein ließ, verscheuchte alle Bedrücktheit.
Nun aber zurück zum Geburtstagskaffee. Die Gäste wurden erst im grauen Salon empfangen. Hier sah ich Husserl zuerst wieder. Und Putti Klein lernte ich bei dieser Gelegenheit überhaupt erst persönlich kennen. Ihre Freunde nannten sie immer noch mit ihrem Kindernamen. Nur ihr Vater rief sie stets »Elisabeth«. Und mir wurde sie natürlich als »Frau Staiger« vorgestellt. Ich weiß nicht, ob sie gleich nach ihrer Kriegstrauung oder erst nach dem Tode ihres Mannes in ihr Elternhaus zurückgekehrt war. Sie half ihrem Vater bei seinen Arbeiten. Er war schwer leidend, ließ sich aber im Rollstuhl zur Universität fahren und hielt Übungen im Mathematischen Seminar. Putti war groß und schlank, eine fürstliche Gestalt, ungebeugt durch ihr hartes Schicksal. Sie hatte zuviel Leben in sich, um in Trauer zu versinken.
Courant kam wohl zuletzt. Natürlich wurde in Göttingen viel von seiner Scheidung gesprochen. Er hatte sich aus Essen nach Göttingen ins Lazarett verlegen lassen. Sein Haushalt war aufgelöst, Nelli wollte nichts von ihren Möbeln in seinen Händen lassen. Als er aus dem Lazarett entlassen wurde, nahm ihn die Familie Runge auf; so wohnte er jetzt in dem gastlichen Haus in der Wilhelm-Weber-Str.{{21}}, in dem vor ihm Bell eine Zuflucht gefunden hatte. Über die menschlichen Hintergründe der Ehetrennung waren natürlich nur ganz wenige Menschen unterrichtet. Von den Anwesenden außer mir nur Pauline Reinach. Wir hatten am Abend vorher schon darüber gesprochen. Luise Lange hatte im letzten Semester mit ihr zusammen bei Gronewegs gewohnt und sich ihr anvertraut. Sie war voller Teilnahme für Luise und auch für Courant, hatte alles in ganz anderem Licht dargestellt bekommen als ich. Luise Lange hatte auch von mir viel gehört und hätte mich gern kennengelernt; andererseits hatte sie Scheu vor einem Zusammentreffen, weil sie wußte, daß ich durch Nelli eingeweiht