Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edith Stein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075830890
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Mahlzeiten bei ihm sein konnte, und löffelte ihm dann so viel wie möglich ein. Ich kam auch früh schon, ehe der Tagesdienst eigentlich begann, um ihm das Frühstück zu reichen. Schwester Elsa, die ihn schon seit längerer Zeit kannte, versicherte mir bald, sie fände ihn schon wesentlich besser. Sie nahm sich während der Nacht besonders um ihn an und war froh, daß sich jetzt auch tagsüber jemand recht um ihn kümmerte. U.a. hatte sie ausfindig gemacht, daß er gern Karlsbader Oblaten nahm. Nun holten wir ihm abwechselnd neue Vorräte aus der Stadt. Viel Hoffnung, daß es wirklich besser mit ihm werden könnte, hatte ich trotz aller Mühe nicht. Man hörte kaum etwas anderes von ihm als »Weh, Weh!« Gewöhnlich legte ich zuerst diese vier Leute für die Nacht zurecht, ging dann in das andere Zimmer, und wenn ich mich dort verabschiedet hatte, sah ich noch einmal nach den schweren Patienten und sagte ihnen Gute Nacht. Dabei fragte Pöhl eines Abends, ob ich auch am nächsten Morgen wiederkäme. Mikeska sagte lachend: »Freilich kommt die Schwester morgen wieder.« Ich aber hatte die größte Freude über diese Frage; denn sie war das erste Zeichen, daß dem Schmerzensmann meine Pflege wohltat.

      Ich schlief seit Ernas Abreise wieder mit Suse in dem ehemaligen Offizierszimmer in der Oberrealschule. Ich stand sehr früh auf und bereitete in einem kleinen Vorraum für uns beide den Kaffee, damit wir uns den weiten Weg zum Speisesaal sparen könnten. Als Suse auf zwei Wochen auf Urlaub ging – haupsächlich um ihren Zwillingsbruder zu treffen, der aus dem Feld daheim war –, lohnte es mir nicht mehr, für mich allein etwas zu richten. Ich ging auf die Station, ohne etwas genommen zu haben, und arbeitete nüchtern durch bis zum Mittagessen, manchmal bis Ý2. Während der Mittagsstunde machten Emmi und ich abwechselnd einen Tag um den andern eine etwas längere Pause, während die andere die ganze Station bewachte. Dann ging es wieder weiter bis in die achte Stunde. Da ich fast den ganzen Tag auf den Füßen war, konnte ich abends kaum noch stehen. Manchmal ging ich sofort in unser Zimmer, und Alwine oder eine andere mitleidige Seele brachte mir das Nachtessen ins Zimmer, damit ich gar nicht mehr aufzustehen brauchte. Es war eine Wohltat, wenn ich ins Bett schlüpfen und die müden Füße ruhen lassen konnte. Wenigstens die Füße – denn ich selbst fand bald gar keinen Schlaf mehr. Ich saß hellwach auf dem hohen Bett und sah durch das große Fenster hinaus auf die Beczwa und den Hügelrükken, an dessen Ende der Helfenstein lag. Es war ein liebliches Bild, wenn der Mond schien. Aber ich dachte an meine Kranken und war froh, wenn der Morgen kam und ich mich überzeugen konnte, daß ihnen nichts fehlte.

      Einmal bekamen wir einen frischen Transport und hatten bis zum späten Abend zu tun, bis die Neuankömmlinge richtig in ihren Streckverbänden lagen. Auch das Offizierszimmer, das bisher nur zwei Insassen gehabt hatte, wurde voll belegt. Sehr spät begegnete ich auf dem Gang noch einem sehr merkwürdigen Transport: Eine hünenhafte Gestalt lag splitternackt auf dem Krankenwagen; auf der kühnen Hakennase saß ein randloser Kneifer, der Kopf ruhte auf einem rotseidenen Kissen. Es war ein polnischer Rittmeister, der aus dem Operationssaal ins Offizierszimmer gefahren wurde. Er hatte sich kein Hemd anziehen lassen, aber diese beiden Gegenstände wollte er unbedingt bei sich haben. Als ich sehr spät und noch erschöpfter als sonst in unserm Zimmer beim Nachtessen saß, klopfte es an die Tür, und es kam die Botschaft, daß der Rittmeister eine eigene Nachtwache brauche. Emmi sollte die erste Hälfte der Nacht bei ihm wachen, ich die zweite. Ich hielt mich im Verschreibzimmerchen der Station auf und ging nur ins Offizierszimmer, wenn der Schwerverwundete – er hatte einen Rückenschuß – etwas wünschte. Das war allerdings sehr häufig der Fall. Er war hellwach und gab mit schallender Stimme seine Befehle, so daß die andern Offiziere nicht schlafen konnten und halb belustigt, halb verzweifelt waren. Einmal wünschte er Tee und Cakes. Zum Glück war gerade die Kontrollnachtwache bei mir eingekehrt und hatte mir beides angeboten, so daß ich seinen Wunsch erfüllen konnte. Ich sah diese Schwester zum erstenmal. Sie gehörte zum Roten Kreuz. Man sagte ihr nach, sie sei im Felde gewesen und habe sich dort moralisch unmöglich gemacht. Nun wurde sie hier stets für Nachtdienst verwendet, damit sie gar nicht mit andern zusammenkäme. Sie ging von Station zu Station, um zu sehen, ob irgendwo jemand in Lebensgefahr sei und ihrer Hilfe bedürfe. Was an den Gerüchten war, weiß ich nicht. Jedenfalls schien sie froh, einen arglosen Menschen zu finden, mit dem sie ein wenig sprechen konnte.

      Mehrmals wünschte mein Patient, daß ich ihm Hände und Arme mit Wasser kühle. Da ich in der Nacht für niemanden andern zu sorgen hatte, konnte ich ihm alles tun, was ihm einfiel. Als am Morgen die andern Schwestern kamen, durfte ich wohl fortgehen, um mich etwas frisch zu machen. Bei der Rückkehr fand ich alles – vom Chef bis zu den Küchenmädchen – in heller Aufregung. Der Schwerverwundete war ein adliger Herr, Neffe eines Ministers, der sich schon nach seinem Befinden erkundigt hatte. Er war mit nichts zufrieden, äußerte Wünsche über Wünsche, die sich nicht erfüllen ließen, und jagte allen, die ihm nahekamen, einen großen Schrecken ein. Eben sollte ihm eins der Mädchen das Frühstück bringen. Sie wagte es nicht und bat mich, es für sie zu tun. Während sie die andern Offiziere versorgte, näherte ich mich dem Gefürchteten. »Guten Morgen, Schwesterchen«, rief er mir entgegen. Er hatte mich offenbar noch von der Nacht her in guter Erinnerung. Die Wärterin sagte draußen ganz ehrfürchtig bewundernd zu mir: »Ihnen hat er gern, Schwester. Er hat ›Schwesterchen‹ gesagt.« Als ich wieder ins Offizierszimmer kam, rief mich ein Hauptmann zu sich heran; er war auch erst am letzten Abend gekommen. »Schwesterchen, sorgen Sie doch dafür, daß dieser Mensch in ein anderes Zimmer kommt. Man hat ja keinen Augenblick Ruhe.« Das hatten indessen auch schon die höchsten Autoritäten des Hauses eingesehen. Sie hatten eine lange Beratung gehalten. Das Ergebnis war, daß ich meine lieben vier Patienten aus dem kleinen Zimmer an andere Stationen abgeben und dafür den Rittmeister hineinbekommen sollte. Der Befehl mußte sofort vollzogen werden. In einer abgestohlenen Minute konnte ich mich nur noch überzeugen, daß der arme Pöhl ein Stockwerk höher in einem großen Krankensaal untergebracht war. Dann hielt der große Herr Einzug in dem völlig umgewandelten Zimmer, und von da ab ertönte alle paar Minuten sein ungeduldiges Klingelzeichen. Sein Zustand verschlimmerte sich fast von Stunde zu Stunde. Er hatte einen Schuß ins Rückenmark bekommen; bald waren die Beine und der Unterleib völlig gelähmt, die Funktionen hörten auf, auch der Geist begann sich zu verwirren. Je unklarer er wurde, desto starrsinniger widersetzte er sich allen Verordnungen. Er wollte weder Nahrung noch Medikamente zu sich nehmen. Wir sollten überhaupt nicht mehr zu ihm kommen; er hatte seinen Burschen bei sich, auf den er große Stücke hielt, und erklärte, der würde ihn gesundpflegen. Iwan lag wie ein treuer Hund zusammengerollt am Ende des Bettes und erfüllte jeden Befehl unverzüglich und ohne Widerspruch. Dabei schien er keine Trauer über den hoffnungslosen Zustand seines Herrn zu empfinden. Wenn er mit einer Botschaft herausgeschickt wurde, plauderte er heiter mit den Mädchen.

      Nach einigen Tagen kamen Bruder und Schwester des Verwundeten, um nach ihm zu sehen. Der Bruder saß stundenlang im Zimmer, ohne viel sagen zu können.

      Ich war tagelang im Unklaren, wie es eigentlich um meinen Patienten stand. Die Ärzte fanden es nicht nötig, uns Bescheid zu sagen. Ich sah seine Kräfte rasch verfallen und war ganz verzweifelt, daß ich nichts dagegen tun konnte. Immer wieder versuchte ich, ihm etwas Nahrung oder die verschiedenen Medikamente beizubringen. Als ich einmal wieder mit Tropfen an sein Bett kam, stieß er meine Hand weg und rief: »Fahren S' ab, Kanaille!« Der Bruder kam mir nach, als ich das Zimmer verließ, und sagte einige entschuldigende Worte. Natürlich erwiderte ich ihm, man könne doch einem Kranken in diesem Zustand nichts übelnehmen. Aber diese ganze aufregende Pflege gab meinen ohnehin schon überreizten Nerven den Rest. Es wurde mir klar, daß es hohe Zeit sei, mir die Erholung zu gönnen, die ich zwei Monate vorher als verfrüht abgelehnt hatte. Aber der Entschluß fortzugehen kam doch erst nach heftigen inneren Kämpfen zustande. Bei meinen Überlegungen spielte noch etwas anderes als die nervöse Erschöpfung eine Rolle. Es kehrte jetzt öfters der Gedanke wieder, ob es nicht doch unklug sei, meine wissenschaftliche Arbeit so lange zu unterbrechen, wo für die Pflege soviel andere Hilfskräfte zur Verfügung standen. Andererseits hatte ich Bedenken, ob das nicht eine egoistische Regung sei. Ich litt sehr darunter, daß Suse Mugdan gerade jetzt auf Urlaub war. Mit ihr hätte ich über meine Zweifel sprechen können. Als ich einmal mittags in unserm Zimmer war, das über einem Portal lag, hörte ich einen Wagen vorfahren und sah vom Fenster aus, wie Suse ausstieg. Ich flog die Stufen hinunter und war schon an der Haustür, bis sie mit dem Kutscher abgerechnet hatte. Ich war glücklich, sie wieder dazuhaben. Nun ging alles leichter. Ich bat Schwester Oberin, mich am 1.IX.