Auch sonst hatte ich täglich manches hinunterzuschlucken. Ganz schlimm war es, als gerade in diesen Juliwochen Erna mich besuchen kam. Sie hatte Urlaub und wollte ihn nirgends lieber als bei mir verbringen. Weißkirchen war ja auch ein reizend gelegener kleiner Kurort und an sich zur Erholung recht geeignet. Die erste Sorge war, eine Wohnung für sie zu finden. Ich konnte mich schwer losmachen, um zu suchen, aber einigemal nahm ich mir die Freistunde, auf die ich Anspruch hatte, dafür. Doch es war vergeblich. Wenn ich in den Logierhäusern in deutscher Sprache nach einem Zimmer fragte, bekam ich gar keine Antwort. Schwester Oberin hörte von meiner Verlegenheit und ließ mir sagen, Erna solle selbstverständlich die Mahlzeiten mit mir im Lazarett nehmen, und auch ein Nachtquartier wollte sie uns zur Verfügung stellen, wenn es uns gut genug wäre. Alwine hatte ihr den Vorschlag gemacht. In unsern Wohnverhältnissen hatte sich in der letzten Zeit manches geändert. Als Schwester Alwine in Urlaub ging, wurde Suse Mugdan als »Ferienvertretung« für sie in die Kleine Gemeinde eingeladen. Dann gingen auch Schwester Klara und Lotte für 14 Tage fort, und wir beiden Neulinge blieben allein zurück. Schließlich wurde der Raum als Krankenzimmer in Anspruch genommen. Schwester Susi, bei der Suse arbeitete, nahm uns beide bei sich auf. Sie hatte auf ihrer Station ein großes Schlafzimmer mit drei hohen Offiziersbetten. Von ihrer eigenen Anwesenheit merkte man kaum etwas, wir waren weiter ungestört wie zu zweien. Schwester Alwine bekam ein ganz besonderes kleines Reich. Es wurde ein eigener Bahnhof gebaut und unmittelbar daneben ein Bad – beides leicht aus Holz gezimmert –; Alwine als Bademeisterin bekam ihr Zimmer in diesen Häusern. Nun schlug sie vor, einen noch freien Raum für Erna und mich einzurichten. Betten, einen Tisch und Stühle hatte sie schnell herbeigeschafft. Ein paar bunte Bauerntücher, die man für wenig Geld in den Lauben am Markt bekam, als Deckchen und selbstgepflückte Wiesenblumen machten das Zimmer freundlich. Natürlich waren wir sehr dankbar für diese Lösung. Erna stellte keine Ansprüche an meine Dienstzeit. Ich stand morgens sehr früh auf und bereitete für uns beide den Kaffee. Wir hatten einen netten Krug mit passendem Karlsbader Trichter und zwei Tässchen gekauft. Vor- und nachmittag las mein Gast im Park oder ging spazieren; manchmal fanden Suse oder Alwine Zeit, sie zu begleiten. Die freundliche Frau Dr. Seidemann, die von meinem Besuch gehört hatte, bat mich, sie mit meiner Schwester bekanntzumachen, und führte sie im Kasino ein. Man zeigte ihr das Lazarett, sie half auch gelegentlich beim Verbinden. Zu den Mahlzeiten holte sie mich an der Baracke ab; dann gingen wir zusammen in den Speisesaal. War ich noch nicht mit Essenausteilen fertig, wenn sie kam, dann half sie mir in ihrer lieben, freundlichen Weise. Keine von uns zeigte sich dabei im mindesten ungeduldig. Trotzdem stieß sich Schwester Marie Luise daran. Sie erklärte mir, es sei ihr peinlich, wenn sie Erna nur kommen sähe; es erschiene ihr wie eine Mahnung, daß sie mich jetzt gehen lassen müsse.
Kurz vor Ernas Abreise erfuhr wiederum Schwester Oberin (wohl durch Alwine) von meinem Martyrium. Sie schickte mir den kurzen Dienstbefehl, einen Tag ganz freizunehmen und mit Erna einen Tagesausflug zu machen. Wir unternahmen bei strahlendem Wetter eine schöne Fußwanderung nach dem Helfenstein, glücklich, meiner Peinigerin entronnen zu sein und einmal ungehindert miteinander reden zu können. Erna hatte wie immer viel auf dem Herzen, und bisher konnten wir fast nur an den Abenden etwas ausführlicher miteinander sprechen.
Als ich am nächsten Morgen wieder zur Baracke kam, erspähten mich die Küchenmädchen schon vom Fenster aus, und die lebhaftere begrüßte mich mit einem Jubelschrei: »Unsere Schwester ist wieder da!« Sie hatten gemeint, ich sei für immer verschwunden. Tatsächlich wurde ich, sobald Erna abgereist war, wieder versetzt: auf die I.chirurgische Station, wo ich schon einmal ausgeholfen hatte. Dort lagen die schwersten Fälle, für die ärztliche Hilfe nahe bei der Hand sein mußte. Schwester Margarete, die Stationsschwester, war ruhig und anspruchslos; sie kehrte nicht die Vorgesetzte heraus, allerdings hatte man an ihr auch keinen festen Rückhalt. Sie hatte ein ganzes Stockwerk unter sich: ein Offiziers- und drei Mannschaftszimmer; davon hatte ich die beiden kleineren zu besorgen, das größte war einer zweiten Helferin – Emmi – anvertraut. Emmi war ein bildhübsches Mädchen, still und zurückhaltend. Weil sie sich von den andern fernhielt, nannte man sie hochmütig und sagte dazu, sie hätte gar keinen Grund, es zu sein, denn sie sei bloß Näherin von Beruf; aber wahrscheinlich sei sie stolz darauf, eine Böhmin zu sein. Wir beide verstanden uns bald sehr gut. Wir wechselten nicht viel Worte miteinander, halfen uns aber gegenseitig, wo wir nur konnten. Die Nachtwache hatte Schwester Elsa, jene Wiener Bildhauerin, von der ich früher erwähnte, daß sie nur Nachtdienst tat. Der Chef war derselbe »Pan Primarius«, den ich schon vom Kleinen Operationssaal her kannte, der Stationsarzt ein junger Tscheche – gut gegen die Soldaten und nicht gerade unfreundlich gegen uns; aber er hatte die unangenehme Gewohnheit, mit den Leuten Tschechisch zu sprechen, ohne uns seine Weisungen zu verdeutschen.
4.
Der August 1915, den ich auf dieser Station zubrachte, ist wohl der schwerste Monat in meiner Schwesternzeit gewesen – in ganz anderer Weise schwer als der Dienst auf Baracke6. Ich hatte nun wieder eine anstrengende Pflegetätigkeit bei sehr hilfsbedürftigen Menschen, wie ich es liebte. Im größeren Zimmer waren neun Betten; die Leute, die darin lagen, hatten fast alle komplizierte Oberschenkelbrüche und trugen Streckverbände. Während sie im Großen Operationssaal zum Verbinden waren, mußte ich schnell ihre Betten machen, und zwar sehr sorgfältig, da sie so steif und fest darin lagen; wenn sie wiederkamen, mußten die Gewichte an ihrem Streckverband genau austariert werden, bis das Bein die Lage hatte, in der es am wenigsten Schmerzen machte. Jede Bewegung im Laufe des Tages machte eine Veränderung der Gewichte nötig. Abends ging ich von Bett zu Bett und rieb jeden an den Stellen, wo der Körper am festesten auflag, mit Alkohol und Puder ein, um das Wundliegen zu verhüten. Ein reichsdeutscher Unteroffizier, der uns durch seine Unzufriedenheit und Krittelei sonst viel zu schaffen machte, sagte: »Die Schwester hat mehr Arbeit mit uns als eine Mutter mit neun Kindern.« Am meisten Sorge machte mir hier ein westfälischer Bauer, Terhart, dessen steif geschientes Bein immer wieder eiterte. Er sah wachsbleich aus und hatte gar keine Lust zum Essen. Ich fütterte ihn wie ein kleines Kind und redete ihm immer wieder zu, noch einen Löffel zu nehmen. Dabei ärgerte ich mich immer ein wenig, weil er so ganz energielos war und sich selbst gar keine Mühe gab, wieder zu Kräften zu kommen. Er hat mir später am meisten nachgetrauert und mir noch lange nach meiner Schwesternzeit aus seiner westfälischen Heimat geschrieben.
Das zweite Zimmer, das ich zu versorgen hatte, war ein ganzes Stück vom ersten entfernt. Es waren nur vier Leute darin, aber solche, die besonderer Sorgfalt bedurften. Einer hatte einen steifen Arm und mußte täglich massiert werden. Er konnte aber wenigstens umhergehen und den andern einen kleinen Dienst tun. Drei lagen ganz fest. Andreikowicz, ein wohlhabender Weinbauer aus der Slowakei, hatte ein Bein amputiert bekommen und der Stumpf war noch nicht gut geheilt. Mikeska, ein junger Maler aus Brünn, hatte eine Wunde am Bein, die immer wieder neue Abszesse hervorrief. Er war ein hübscher, fröhlicher Bursche, sehr lieb und geduldig. Aber wenn der Fiebermesser jeden Abend wieder in die Höhe ging, dann wurde er doch etwas niedergeschlagen. Ein wahres Jammerbild war Pöhl, ein Tiroler Bauer. Als er mir einmal eine Photographie aus seinen gesunden Tagen zeigte, erschrak ich. Da war er ein großer, kräftiger Rekrut gewesen, breit, mit vollem Gesicht. Jetzt war er überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen. Er hatte einen Rückenschuß bekommen, und es hatte sich ein Lungenemphysem gebildet. Liegen konnte er überhaupt nicht. Er lehnte sich sitzend gegen einen kunstvollen Aufbau von Kissen. Trotz Gummi- und Watteringen, mit denen man ihm zu helfen suchte, war er schon an mehreren Stellen wund. Jede Bewegung verursachte ihm heftige Schmerzen. Die größte Qual war der tägliche Verbandswechsel: das Herausheben aus dem Bett, die Fahrt zum Operationssaal, das Verbinden, die Plage, bis er im Bett wieder eine erträgliche Stellung hatte. Oft holte man ihn zum Verbinden, während ich im andern Zimmer war, ohne mir Bescheid zu sagen, und rief mich erst, wenn er wieder zurückkam. Das regte mich jedesmal sehr auf; denn ich wollte ihm doch während seiner Abwesenheit das Bett sorgfältig richten, wie er es brauchte. Andererseits riefen oft die Leute in dem größeren Zimmer nach mir, wenn ich in dem kleinen war; und da sie ja nicht wissen konnten, wen ich außer ihnen noch zu versorgen hatte, kam es mir oft so vor, als ob sie sich vernachlässigt fühlten. Bei Pöhl war das Füttern noch nötiger als bei Terhart. Er war viel zu schwach, um sich nur den Eßnapf vom Nachttischchen herüberzulangen oder den Löffel zum Mund zu führen. Die