Manchmal kam ein Feldgeistlicher in Uniform in den Saal und ging durch die Reihen. Ich muß sagen, daß er wenig vertrauenerweckend aussah; ich habe auch nicht bemerkt, daß er sich längere Zeit bei jemandem aufgehalten hätte. Nie habe ich es erlebt, daß einem Kranken die hl. Kommunion gebracht oder die hl. Ölung gespendet wurde. Leider war ich so völlig unwissend in diesen Dingen, daß es mir gar nicht einfiel, danach zu fragen oder dafür zu sorgen.
Ein anderer Gast, der bisweilen kam, war der Oberleutnant, dem die Militärkanzlei unterstand. Er war immer überaus höflich und schärfte den Leuten ein, sie hätten den Schwestern zu gehorchen wie ihm selbst. Nötiger als bei den Patienten war das bei den Landsturmleuten, die wir zur Hilfe hatten. Anfangs war ich ganz entsetzt, daß man es Soldaten zumutete, die allerniedrigsten und schmutzigsten Dienste zu tun. Sie lehnten sich nicht offen dagegen auf. Aber die Polen und Tschechen unter ihnen übten passiven Widerstand, indem sie sich stellten, als ob sie die deutschen Befehle nicht verstünden. Wenn man seinen Saal gekehrt haben wollte, mußte man so einen Mann bei der Schulter packen und ihm einen Besen in die Hand drücken. Dann bequemte er sich wohl, die Arbeit anzufangen. Aber wenn man den Rücken drehte, mußte man darauf gefaßt sein, daß der Besen bald wieder in der Ecke stand. Wir hätten die faulen Leute dem Oberleutnant anzeigen sollen. Aber die Österreicher hatten so abscheuliche Strafen – Anbinden oder gar Prügel. Dem wollte man doch niemanden aussetzen.
Ich verkehrte mit allen Schwestern in freundlichem und kameradschaftlichem Ton, hielt mich aber doch in angemessener Entfernung von ihnen. Dazu rieten mir die Erfahrungen jenes »Festabends« und manches, was ich später noch beobachten mußte. So war ich innerlich recht einsam. Ein Trost war es zu wissen, daß Grete Bauer da war: Sie stammte doch aus denselben Kreisen wie ich und war in derselben Gesinnung hergekommen. Ich glaube, es war am ersten Sonntagmorgen, daß ich zum erstenmal mit ihr und Schwester Alwine einen kleinen Spaziergang machte. »Zum heiligen Antonius«, schlug Alwine vor. Am Abhang eines Hügels, etwas unterhalb der Höhe, hatte der Heilige seinen Platz. Wir setzten uns zu seinen Füßen und hatten einen weiten Ausblick in die anmutige Landschaft. Durch Weißkirchen schlängelte sich die Beczwa, ein hübsches Gebirgsflüßchen. An beiden Ufern zogen sich Hügelketten hin – die Ausläufer der Beskiden. Auf einem langgestreckten Rücken sah man in der Ferne eine alte Ruine, die Burg Helfenstein. Es war ein überaus fruchtbarer Landstrich, in dem wir uns befanden: die »mährische Hanna«, ein wahres Gartenland. Noch in ziemlicher Höhe dehnten sich üppige Weizenfelder, und in den tief eingerissenen Talschluchten waren Wiesengründe mit einem Blumenreichtum, wie ich ihn kaum je anderswo gefunden habe. Dort holten wir uns manchmal früh, noch ehe der Dienst begann, den Blumenschmuck für unsere Krankensäle. Die Schwestern wetteiferten darin, es auf ihren Stationen möglichst freundlich und nett zu haben.
Grete Bauer und Alwine bewohnten mit zwei andern Schwestern zusammen ein Zimmer in der Oberrealschule. Dieses Kleeblatt hielt fest zusammen und blieb dem Treiben der andern Schwestern fern. Es war der Schwester Oberin treu ergeben, sie nannte es ihre »kleine Gemeinde«. Manchmal wurde ich abends nach dem Dienst dort eingeladen. Schwester Klara war eine tüchtige Krankenschwester, schon in mittleren Jahren, groß, eckig und häßlich, mit tiefer Stimme und männlichem Gebaren, aber herzensgut und von erquickendem Humor. Ihre Helferin Lotte Neumeister, ein großes blondes Mädchen, Tochter eines Breslauer Arztes, hing mit eifersüchtiger Liebe an ihr. Manchmal nahm an diesen Abenden auch Schwester Margarete teil, aber oft gestatteten ihr die Oberinnenpflichten die kleine Entspannung nicht. Dem Geschmack von Schwester Klara entsprach es, daß man Kommersbräuche beobachtete. Sie hatte sogar Couleurmützen und Schläger zur Verfügung. Den »Stoff« bildete starker Kaffee, den man im Zimmer braute. Dazu gab es Zigaretten und süße Kuchen. Die holte man während der Mittagsfreizeit in einer kleinen Konditorei am Markt. Es gab vorzügliche Sachen, denn die Österreicher sind Leckermäuler. In der Konditorei traf man gewöhnlich ein paar Offiziere in ihren eleganten, kleidsamen Uniformen. Sie tranken stehend ein paar Gläschen Likör und verspeisten dazu süße Törtchen – ein erstaunlicher Anblick, wenn man deutsche Begriffe von »Heldentum« in sich trug. An starken Kaffee und Zigaretten habe auch ich mich bald gewöhnt. Die Nerven verlangten wohl nach etwas Aufpeitschung, wenn man aus den Krankensälen kam.
Als ich zwei Wochen auf der Typhusstation war, bekam ich Nachtdienst. Wir hielten ihn abwechselnd in unserm Saal. Dann kam man 14 Tage lang nur nachts auf die Station – von abends um 7 bis früh um 7 – und hatte den Tag zum Ausruhen. Um 9Uhr früh gab es für die Nachtwachen Mittagessen, dann sollten sie bis etwa 6Uhr abends schlafen, um Ý 7 ihr Nachtessen nehmen und dann auf ihre Station gehen. Für die Nacht bekamen sie ein Kännchen Kaffee, ein dickes doppeltes Butterbrot und ein Ei mit. Es gab für sie einen eigenen Schlafsaal; in den siedelte auch ich jetzt über. Wenn man gute Freundinnen hatte, die einem für das Mittagessen sorgten, konnte man es sich zur gewöhnlichen Stunde holen und ans Bett bringen lassen. Dann brauchte man nicht schon um 9 zur Stelle zu sein, sondern konnte etwas länger im Freien bleiben. Denn nach Licht, Luft und Sonne hatte man noch mehr Verlangen als nach Schlaf.
Als ich am ersten Abend mit meinem Kaffeekännchen zur Reitschule ging, begegnete mir Dr. Pick mit einem Kollegen. Er wünschte mir Glück für die Nacht und sagte zu dem andern: »Seit zwei Wochen ist sie da und übernimmt schon die Verantwortung für 60 Typhuspatienten.« Es erwartete mich aber noch mehr. Die Oberschwester ließ mich rufen und fragte mich, ob ich Spritzen geben könne. Ich hatte es gelernt, wenn auch noch nicht oft getan. Sie bat mich, auf den II.Saal etwas mit achtzugeben; die Polin, die dort Nachtwache hätte (der kleine Korporal!), verstünde sich nicht auf Spritzen. Auch in den III.Saal sollte ich manchmal sehen, denn dort sei nur eine Wärterin. Schließlich übergab sie mir noch das kleine Absonderungszimmer: Dorthin war ein Patient aus unserm Saal verlegt worden, weil bei ihm Diphtherie festgestellt war. Es war ein Zigeuner, der uns schon viel Sorge gemacht hatte, weil er jede Nahrungsaufnahme verweigerte. Er war erschreckend abgemagert, und sein braunes Gesicht war erdfahl geworden. Die Diphtherie hat ihm den Rest gegeben. Er starb aber nicht während meiner Nachtwache. Dagegen holte mich die kleine Polin voller Angst gleich in der ersten Nacht zu einem Sterbenden. Der Arme konnte sich ihr in seiner Todesnot nicht einmal verständlich machen: Es war ein Deutscher und sie verstand kein Deutsch. Ich schickte sie schnell um den Arzt, der bei uns Nachtdienst hatte, und richtete indessen eine Spritze. Der Arzt kam bald, aber es war nichts mehr zu helfen. Er konnte nur noch den Tod abwarten und feststellen. Das war das erstemal, daß ich jemanden sterben sah. Den zweiten Todesfall hatte ich in unserm Saal: Als ich nach einigen Tagen Nachtdienst abends auf die Station kam, empfingen mich die Schwestern mit der Nachricht, daß ein Sterbender eingeliefert worden sei; sie hätten ihn mir noch für die Nacht aufgespart. Ich bekam die Weisung, ihm jede Stunde eine Kampferspritze zu geben. Mehrere Nächte fristete ich so das Lebensfünkchen bis zum Morgen. Es war ein großer, kräftiger Mann; er lag immer völlig regungslos und ohne Bewußtsein da. So war er schon angekommen. Niemand von uns hat ihn einmal die Augen öffnen sehen oder ein Wort sagen hören. In der letzten Nacht hatte ich ihm auch noch einige Spritzen gegeben. Dazwischen horchte ich von meinem Platz aus auf den Atem – auf einmal setzte er aus. Ich ging zu dem Bett hin: Das Herz schlug nicht mehr. Nun mußte ich tun, was uns für solche Fälle vorgeschrieben war: die wenigen Gegenstände, die sich aus seinem Privatbesitz bei ihm fanden, zusammennehmen, um sie in der Militärkanzlei abzugeben (die meisten Sachen wurden den Leuten gleich bei der Ankunft abgenommen und bis zur Entlassung aufbewahrt); den Arzt rufen und mir einen Totenschein ausstellen lassen; mit dem Schein zur Torwache gehen und Männer bestellen, die den Toten auf einer Tragbahre abholten; schließlich alles Bettzeug entfernen. Als ich die paar Habseligkeiten ordnete, fiel mir aus dem Notizbuch des Verstorbenen ein Zettelchen entgegen: Es stand ein Gebet um Erhaltung seines Lebens darauf, das ihm seine Frau mitgegeben hatte. Das ging mir durch und durch. Ich empfand jetzt erst, was dieser Todesfall menschlich zu bedeuten hatte. Aber